Wanderer

Wolf Welling

„Wanderer“ ist nach „Die Wächterin“ der zweite Roman des unter dem Pseudonym Wolf Welling schreibenden und 1943 geborenen Wolfgang Pippke. Als Jugendlicher im Science Fiction Fandom aktiv hat er sich seit vielen Jahren neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf exzentrische, inhaltliche innovative und verspielte Kurzgeschichten nicht selten mit einem mahnenden, aber nicht unbedingt belehrenden Unterton konzentriert.  Seine frühen Kurzgeschichten erschienen 2013 in der Sammlung „Zwischenzonen“, wobei der Titel dieser Kurzgeschichtensammlung auch Programm für sein ganzes bisheriges Werk sein könnte. Neben dem EXODUS Magazin publizierte Wolf Welling unter anderem in NOVA, aber auch verschiedenen Themenanthologien. Auch wenn es bislang nicht für den vordersten Platz der wichtigsten Science Fiction Preise gereicht hat, sind seine Kurzgeschichten immer wieder nominiert worden. 2018 veröffentlichte p. machinery den angesprochenen Roman „Die Wächterin“.  Mit „Wanderer“ liegt keine Fortsetzung vor, das Gegenteil ist der Fall und trotzdem gehören die Bücher „thematisch“ auch zusammen.  

In „Die Wächterin“ lässt sich Ayra auf einen einsamen Wüstenplaneten versetzen.  Dreißig Jahre soll ihr Dienst in einem Schloss dauern, das der erste Wächter auf dieser Welt errichtet hat. Es ist eine Reise in das eigene Ich- untreue Partner und dubiose PSI Experimente – aber auch gleichzeitig die Erkundung einer fremdartigen, exotischen, vielleicht sogar auch unwirklichen Welt. Es ist eine Herausforderung, einen Roman über einen einzigen Menschen – Ayra wird noch von einem Roboter und zwölf Putten begleitet – zu schreiben, der spannend, emotional, intensiv und vor allem auch vielschichtig ist.  Als Debüt ist es eine doppelte Herausforderung, die Wolf Welling auf eine ausgesprochen originelle wie auch sein Gesamtwerk entsprechend originale Art und Weise gemeistert hat.

„Wanderer“ ist der nächste Schritt. Wieder ist der Hintergrund eine fremdartige, faszinierende Welt, die der Leser auf Augenhöhe der einzelnen Protagonisten – Welling entschließt sich. Verschiedene Perspektive von der subjektiven Ich- Erzählform mit einer fast direkten Ansprache des Lesers bis zur neutralen dritten Person einzusetzen – kennenlernt. Verschiedene Spekulationen bauen aufeinander auf, bis Wield schließlich weniger an die Schöpfungen eines Frank Herberts heranreicht, sondern dem frühen Christopher Priest zur Ehre reicht.

„Die Wächterin“ war lange Zeit ein Stillleben, der Versuch, den eigenen Lebensmittelpunkt wiederzufinden, bevor die Welt immer fremdartiger und damit auch bedrohlicher geworden ist. „Wanderer“ ist grundsätzlich Bewegung. Das hat mit der Ausgangsprämisse zu tun.

Im Prolog impliziert Wolf Welling, dass es den alten Göttern langweilig geworden ist. Sie haben nicht mehr den Glauben der Menschen an sie zerren können. So haben sich drei Gottheiten entschlossen, zumindest in der Theorie einem sehr kleinen Teil der Menschheit eine Sisyphus Aufgabe aufzuerlegen.

Eine Gruppe von ungefähr dreißig Menschen beiderlei Geschlechts wandert seit Jahrzehnten durch die Landschaften Wields. Jeden Morgen erscheinen am Himmel drei Leuchtpunkte, Botschaften der Götter. Am Abend müssen die Wanderer unter ihnen lagern. Sie werden dann aus Säulen mit Wasser und entsprechendem Nährbrei, teilweise auch mit Müsliriegeln oder Kleidung sowie anderen Notwendigkeiten versorgt. Am nächsten Morgen verschwinden die Säulen wieder und um wieder versorgt zu werden, müssen sie den Sternen bis zum nächsten Rastplatz folgen. Die Gruppe der Menschen verändert sich. Wenn jemand stirbt, wird er ersetzt. Dabei legen die Unbekannten bei ihren Transfers auf mehrere Komponenten Wert. Die meisten Menschen kommen direkt oder indirekt aus Berlin. Sie müssen dort nicht geboren worden sein, aber zum Zeitpunkt der Entführung mittels einer Art Transmitter müssen sie in Berlin gelebt haben. Sie haben unterschiedliche Geschlechter, wobei auf eine gleiche Anzahl von Frauen und Männern Wert gelegt wird. Sie sind unterschiedlich alt und ihre grundlegende soziale Herkunft könnte nicht verschiedener sein. Im Laufe des Romans transferiert Wolf Welling unter anderem einen Vierzehnjährigen, der  von zu Hause abholen wollte; eine sechzehnjährige mit einem pubertierenden Ego Komplex; wahrscheinlich eine Prostituierte und Stangentänzerin oder den unscheinbaren Ich- Erzähler, der bislang neben Gelegenheitsjobs mehrere Kurzgeschichten und einen Roman im phantastischen Genre veröffentlicht hat. Eher in Kleinverlagen und nichts zum Leben. Wolf Welling lässt grüßen, auch wenn schon aufgrund des Altersunterschieds zwischen Protagonisten und Autoren die Ähnlichkeiten aufhören.

Über weite Strecken dominiert die Wanderung und Welling konzentriert sich auf die zwischenmenschlichen Probleme innerhalb der Gruppe. Erst in der zweiten Hälfte des Buches erweitert Welling wie bei „Die Wächterin“ den Horizont seiner Welt und entwickelt ein sehr spannendes Szenario, das sogar einen doppelten Mord inklusive des Aussagens des Opfer deutlich, fast überdeutlich in den Hintergrund treten lässt.

Auch in seinen Kurzgeschichten legt der Autor immer Wert darauf, dass der Leser erst einmal die Protagonisten kennenlernt. Der Ich- Erzähler wird vom selbsternannten Anführer – Big Daddy – standesgemäß begrüßt. Die Machtverhältnisse innerhalb der Gruppe dürfen nicht verändert werden und als Hahn im Korb mit dem Recht auf die erste Nacht bei den ankommenden neuen Frauen und einer Wahrsagerin als Einflüsterin sieht der paranoide Big Jake seine Position immer als gefährdet an. Auf Augenhöhe des Ich- Erzählers lernt der Leser den stupiden Tagesablauf mit Wandern – ungefähr fünfzehn Kilometer pro Tag – ; rasten und Nahrung/ Wasser aus den Säulen;  Abends am Feuer ein wenig Unterhaltung in der Gruppe und dann hoffentlich erholsamen Schlaf kennen. Einzelne Mitglieder dieser Gruppe wandern schon seit Jahren über den Planeten. Es gibt nur noch Tagesziele. Einmal pro „Jahr“ – die Zeit wird primitiv festgehalten – findet eine kreative Woche statt, in welcher die „Götter“ ihren Versuchsobjekten die entsprechenden Werkzeuge zur Verfügung stellen. Eine besondere Theateraufführung wird die Struktur der Gruppe durcheinanderwirbeln. Wer nicht mehr kann, muss zurückgelassen werden. Wahrscheinlich verhungern und verdursten die Menschen. Kurz Zeit später werden sie mit einem neu transferierten Opfer ersetzt, wobei auf der Erde bzw. Berlin als Ausgangspunkt normal weiterläuft.  So berichtet eine der letzten Ankommenden Lisa von der Corona Seuche und den entsprechenden Lock Downs.

Die erste Hälfte des Romans konzentriert sich auf die trotzdem sehr brüchige Gemeinschaft der Wanderer. Mit Simone hat der Ich- Erzähler eine Frau, die ihn mag und die ihm unauffällig das harte Leben auf diesem Planeten nahe bringt. Natürlich stellvertretend und nicht  belehrend für den Leser.

Mit dem Mord an der Gräfin – so betitelt sie sich selbst – und der Flucht eines Mitglieds aus der Gemeinschaft beginnt sich nicht nur der erzähltechnische Horizont zu erweitern, Wolf Welling löst die Struktur des Augenblicks; der stoisch wandernden Gruppe auf und gewährt mehr Einblicke in die „Vergangenheit“ der Wanderer und vor allem auch relevante Ereignisse, die vor dem plötzlichen Eintreffen des Ich-  Erzählers spielen. Mit der Aufsplitterung der Gruppe hat der Erzähler auch die Möglichkeit, hinter die Mechanismen seiner Welt zu schauen und die Leser an dieser wirklich interessanten und vor allem auch originellen wie bizarren „Schöpfung“ teilnehmen zu lassen.    

Mit der Teilung der Gruppe scheint der Roman auch an innere Struktur zu verlieren. Immer schräger wirkende Typen werden eingeführt, ohne dass der Leser die Zusammenhänge erkennen kann. Die Idee, dass die Götter dreier Religionsgemeinschaften alleine Berliner aussuchen, wirkt unglaubwürdig. Da hilft auch die Idee eines möglichen Experiments in Form einer virtuellen Simulation inklusive der entsprechenden Entführung der Teilnehmer wenig. Akzeptiert der Leser diese Prämisse, dann lernt er wirklich drei Handvoll von seltsamen, aber auch klar unterscheidbaren und eine Reihe ihrer Probleme zwangsweise nach Wield mit bringenden Typen kennen, von denen sich der unscheinbare, in allen Punkten durchschnittliche Ich- Erzähler mehr und mehr zu einem Charakterkopf und ausgewählten Anführer wandelt. Kritisch gesprochen kann auf der anderen Seite argumentiert werden, dass Wolf Welling einen Autoren von phantastischen Geschichten und einem Roman in ein hinsichtlich der Grundstruktur klassisches, vielleicht sogar klischeehaftes Szenario mit einigen bizarren Ideen entführt und dieser fast stoisch alles akzeptiert, als seine eigene, Genre gebundene Phantasie zu fragen. 

Am Ende des Romans führt er die beiden Gruppen wieder zusammen. Der Aberglaube der Menschen, dogmatisiert in der Person des Priesters, droht die bisherige Zweckgemeinschaft zu zerreißen, bis Wolf Welling die Geschichte beenden muss. 

Nicht selten ist die Reise interessanter als das Ziel und selten passte der Spruch besser, dass jede Reise mit dem ersten Schritt (nach dem erzwungenen Transfer) beginnt. Fernsehserien wie “Lost” oder Stephen Kings “Under the Dome” haben bewiesen, wie schwer es ist, ein für viele Leser überzeugendes Ende zu präsentieren. Wolf Welling reiht sich in diese Phalanx ein. Auf der einen Seite muss der Ich- Erzähler den Text  ja dem Leser übermitteln. Während der Wanderung auf Wiehl hatte er  kein Papier, um die Erlebnisse niederzuschreiben. Also wird der Ich- Erzähler trotz der Drohung ausgesondert. Diese “Drohung” erweist sich als leere Geste. Das kann auf der einen Seite den Leser enttäuschen, auf der anderen Seite werden absichtlich und auf eine erstaunliche menschliche Art und Weise die Protagonisten betrogen. Wolf Welling hat niemals versprochen, dass das Universum fair ist, aber hier rüttelt der Autor schon zu Gunsten seines konstruierten Endes an der notwendigen Glaubwürdigkeit. 

Tritt der Leser einen Schritt zurück, ist es Wolf Welling gelungen, einen uralten Science Fiction Plot in des Kaisers neue Kleider zu stecken und als eine Art Allegorie auf den Mikrokosmos Berlin zu verkaufen. Nicht umsonst wird die grundlegende Prämisse noch einmal deutlich gemacht: Menschen aus Berlin mit künstlerischen Ambitionen sind die wahren Vertreter der Menschheit. Das ist keine Satire,  keine Farce, Wolf Welling meint es ernst. 

Der melancholische Epilog mit der Sehnsucht nach Wiehl, aber auch einem geordneten Leben entschädigt nur bedingt für die Enttäuschung, als was sich dieser Test herausstellt. 

Wiehl selbst ist eine der interessanten Schöpfungen. Wie bei “Lost” - neben den grauen Schatten als Alternative zum Nebel; dem Uhrwerk gibt es auch kryptische Botschaften und eine verlassene Stadt jenseits der Mauern - erschafft Wolf Welling einen faszinierenden Spielplatz für die menschlichen Eitelkeiten und Schwächen. Hinter der Mauern findet sich mit dem Kubus, der Ruinenstadt oder dem angesprochenen Inneren von Wiehl derartig viel Entdeckenswertes, das der Leser im Gegensatz zu den getriebenen Protagonisten länger bleiben möchte. 

Neben den gut gezeichneten, manchmal notwendigerweise auch konstruierten Protagonisten ist Wiehl inklusive der schönen Collage Thomas Frankes der Höhepunkt des Romans und “Wanderer” könnte unter Ignoranz des schematischen Endes zu den Nominierung Kandidaten für die beiden Science Fiction Preise gehören. Auf der anderen Seite darf auch nicht verschwiegen werden, dass die Erwartungshaltung einiger Leser gegenüber der finalen Auflösung deutlich höher ist, als sie Wolf Welling in diesem gefälligen Ende präsentiert. Und das ist angesichts des Autorenpotentials eine Enttäuschung.  

 

Wolf Welling
WANDERER
AndroSF 176
p.machinery, Winnert, Juni 2023, 294 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 330 7 – EUR 17,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 774 9 – EUR 5,99 (DE)