Der Henkerkeller

Nils Noir

„Der Henkerkeller und andere blutige Fälle“ präsentiert vier Geschichten aus der Feder des an der Weser geborenen und inzwischen in Wien lebenden Nils Noir. Seit einigen Jahren schreibt er neben Gedichten aus Kurzgeschichten und Romane. 2022 erschien DEAD DOLLS, ein Jahr später eine Art Prequel. Der Autor verbindet in seinen Romanen laut eigenen Angaben Elemente des blutig satirischen Slashers mit dem Hard Boiled. „Der Henkerkeller…“ ist sein erster Sammelband mit Sherlock Holmes Geschichten.  Die Texte gibt es teilweise auch als Hörbuch.

„Das kalte Herz der Dorothy Double D.“ ist die Auftakt Geschichte. Dorothy Double D. –  der Name der fiktiven letzten Dirne, die Jack the Ripper in einem qualitativ grausigen Stück tötet – ist zwar herzlich, aber nicht emotionslos. Zu Beginn der Geschichte vergnügt sie sich mit ihrem neuesten Liebhaber, einem unbegabten Maler, der ein Stehvermögen eines Hengstes hat. Angetrieben von Kokain. Ihr gehörnter Mann schaut durch das Fenster zu. Am nächsten Morgen wird der Künstler ermordet aufgefunden. Die Prämisse ist nicht originell, aber Nils Noir will anschließend dem Leser glaubhaft machen, dass selbst eine durchschnittlich intelligente Frau keinen Verdacht schöpft, wenn der Maler ihr fünfter heimlicher Liebhaber ist, der teilweise noch in der Nacht des Beischlafs auf eine bestialische Art und Weise ermordet wird.

Unglaubwürdig erscheint auch angesichts der vom Autoren expliziert beschriebenen sozialen Missstände in London, das die Ermordung eines eher mittellosen Malers niederer Qualität in allen Tageszeitungen auf die erste Seite kommt, während die Morde an der Oberschicht mit grotesker Ausgestaltung eher nebenbei berichtet werden.

Diese beiden Prämissen muss ein Leser akzeptieren, bevor Sherlock Holmes relativ schnell dem einzigen in Frage kommenden Täter auf die Spur kommt. Wie in den meisten der vier hier gesammelten Geschichten ist der Leser durch die wechselnde Perspektive schlauer und verfolgt einige der Taten direkt aus dem Blickwinkel der psychopathischen Mörder. Das Ende ist eher hektisch zu nennen.

„Der böse, böse Baltimore“ – der vollständige Name des vor vielen Jahren verstorbenen Ritters ist Baltimore Battlefield – überzeugt ebenfalls nicht. Ein Grabräuber wird auf dem Friedhof ermordet. Schnell stellt sich heraus, dass ein Vigilant durch Londons Straßen streicht und Menschen mit seinem Schwert köpft. Damit folgt er der Tradition des Ritter Baltimore Battlefield, der vor vielen Jahrhunderten seine Feinde mit einem einzigen Streich seines Schwertes köpfte. Alle Opfer haben nicht nur aus Sicht des Psychopathen ihren Tod verdient, bis folgerichtig irgendwann die moralische Grenze überschritten und ein Unschuldiger getötet wird .

Sherlock Holmes muss bei dieser Geschichte ein wenig mehr ermitteln als im ersten Fall. Allerdings erkennt der Detektiv die Verbindung zur historischen Figur. Es gibt nur einen Ort, an welchem er den Täter finden kann.  Die Geschichte endet wie „Das kalte Herz der Dorothy Double D.“ auf einer dunklen Note, einer Art Pyrrhussieg. Aber kritisch gesprochen geht Nils Noir im Laufe der Story auch die Luft aus und er versucht den Text viel zu stringent, zu konstruiert zu Ende zu bringen.  

„Tief im Keller von Henker Hellfire“ beginnt vielversprechend und hebt sich aus der Masse der drei anderen, sehr durchschnittlichen und konzeptionell auch fragwürdigen Geschichten ab. Der Londoner Henker hat diesen Job nur angetreten, weil er Geld verdienen muss. In Wirklichkeit ist er ein feinfühliger Dichter, der abends über seiner Lyrik sitzt. Eine Hinrichtung geht in doppelter Hinsicht schief. Aus der Sicht des Henkers ist der Junge unschuldig, die Polizei in Person Lestrades hat unsauber gearbeitet. Weiterhin vernachlässigt er seine Pflicht und muss den Jungen zweimal hängen. Daraufhin nimmt sich der Henker das Leben, die Öffentlichkeit schreit nach dem Aufrollen des Falls und Sherlock Holmes wird von Lestrade, die Ermittlungen leiten.

Wieder muss Sherlock Holmes im Grunde nicht aktiv eingreifen, denn der eigentliche Fall inklusive der Bestrafung des richtigen Täters rollt auf der zweiten Handlungsebene ab. Der berühmte Detektiv braucht nur die einzelnen Puzzlestücke, für wen er auch immer diese zusammensetzt. Für die Leser ist es unnötig. Am Ende zerfällt die Geschichte wieder. Der Plot wird relativ schnell, fast hektisch beendet. Nils Noir fehlt das Gespür für die richtige Balance aus Spannung und Tempo. Vielleicht setzt sich der Autor auch zu sehr unter Druck, in dem eher begrenzten Umfang der Blitz Taschenbücher vier Fälle unterzubringen. Diese fehlende Struktur hat sich bislang eher bei den Adaptionen der verschiedenen Sherlock Holmes Hörspiele unter anderem durch Thomas Tippner gezeigt.

Vieles bleibt in dieser Geschichte zu vage und die anfänglich interessante Zeichnung der Nebenfiguren löst sich abschließend buchstäblich im Londoner Nebel auf.  Oscar Wilde hat mit seiner nervigen Gattin eine kleine Nebenrolle, Sherlock Holmes erweist sich als Fan seiner Werke und möchte ein Buch von ihm für Mrs. Hudson signieren lassen.

Die schwächste Geschichte ist “Tilly Toydolls giftige kleine Freundin“. Eine Frau mordet sich nach oben. An ihrer Seite ist immer eine giftige Spinne, die sie rechtzeitig einsetzt, nachdem der Ehevertrag geschlossen worden ist. Ihre neuste Errungenschaft ist Oscar Wilde

Durch einen Zufall lernt sie Sherlock Holmes und seinen Bruder Mycroft Holmes kennen. Anscheinend hat Tilly Toydoll eine besondere Anziehungskraft auf ältere Männer.  Mycroft Holmes verfällt ihr. Nackt tollt er mit ihr durch die Betten. Sherlock Holmes erkennt die Gefahr für seinen Bruder spät.  Ohne die Pointe zu verraten, gegen die Kanonregeln zu spät.

Das Sherlock Holmes Universum ist groß und komplex. Die Autoren haben ohne Frage eine Reihe von Freiheiten und können die Figuren in jegliche Richtung interpretieren. Auch die verschiedenen Fernsehserien wie „Elementary“ oder „Sherlock“ haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Auch wenn der Leser/ Zuschauer anfänglich erst verwundert auf  die betreffenden Charaktere reagiert, fühlt er sich bei den meisten der unterschiedlichen Präsentationen respektvoll behandelt. Wahrscheinlich wollte Nils Noir mit den Klischees brechen und Mycroft Holmes als den typischen, klischeehaften dirty old man – dieser Begriff könnte direkt aus der Geschichte stammen – darstellen, den viele Mitglieder der oberen  britischen Gesellschaftsschichten Verkörpert haben. Hier verbindet der Autor aber Mycroft Holmes mit diesen Klischees und löst die Mordserie passiv eher unbefriedigend auf.  Auch das Ende ist wieder hektisch. 

Sprachlich entwickelt der Autor wenig Gefühl für die Zeit. Immer wieder stilistisch ein wenig schludrig mischt Nils Noir moderne, nicht in die Zeit passende Begriffe unter seine Dialoge. Seine Beschreibungen sind uneinheitlich zwischen drastisch dramatisch und dann wieder atmosphärisch dicht. Schmutz und Dreck ziehen ihn magisch an, wobei ihm das Gefühl für das Gesamtbild ein wenig fehlt. Hinsichtlich der handelnden Personen gibt es ein oder zwei amüsante Szenen zwischen Sherlock Holmes und Mrs. Hudson, ansonsten ist der Detektiv bei den vier Fällen immer zu spät. Das liegt weniger am Einsatz seiner Fähigkeiten, sondern an der Struktur der Fälle und der Vorgehensweise des Autors. Eine echte Spannung kommt nicht auf und die Enden wirken dunkel, aber hektisch. 

Vielleicht wollte Nils Noir den bekannten Sherlock Holmes gegen den Strich bürsten und etwas Anderes präsentieren. Dazu könnten auch die seltsamen, künstlich wirkenden Namen passen. Aber wer sich als Pseudonym Nils Noir nennt, will konsequent bleiben. Dadurch wirken einige Nebenfiguren noch mehr als Karikaturen als vielleicht beabsichtigt.  Diese literarische Freiheit kann dem Autoren auch zugestanden werden, herausgekommen sind aber vier eher distanzierte und klischeehaft stereotyp niedergeschriebene Fälle, in denen der Leser immer das Gefühl hat, als fehle dem Autoren eine Bindung zu den charismatischen Originalcharakteren und vor allem auch dem Sujet des viktorianischen Krimis.  “Die Bande der Maskenfrösche” war unangenehm brutal für Sherlock Holmes Geschichten, “Der Henkerkeller und andere blutige Fälle” sind dagegen unglaubwürdig und stark konstruiert.    

Nils Noir
DER HENKERKELLER

Band: 44, Unheimliche Geschichten
Seiten: 152 Taschenbuch
Exklusive Sammler-Ausgabe
Preis: 12,95 €

www.blitz-verlag.de

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