Wandler Weird Anthologie

Michael Schmitt (Hrsg.)

Michael Schmitt präsentiert in seinem ambitionierten Wandler Verlag die erste von ihm zusammengestellte Anthologie mit insgesamt elf Kurzgeschichten und einer Novelle/ Kurzroman aus der Feder Ramsey Campbells. Bei der Zusammenstellung der Texte moderner Weird Fiction Autoren hat Michael Schmidt Wert auf mehrere Komponenten  gelegt, die er in seinem kurzen Vorwort erläutert. Es handelt sich um Kurzgeschichten, die Bezüge zu anderen Werken der jeweiligen Autoren in sich tragen, aber alleinstehend gelesen werden können. Eher durch einen Zufall haben viele der Storys auch einen Bezug zu H.P.  Lovecraft und unterstreichen, welchen Einfluss der Einsiedler von Providence in den fast neunzig Jahren nach seinem frühen Tod gewonnen hat. Als dritter Aspekt ist anzumerken, dass es sich durchgehend um Erstveröffentlichungen handelt, die von Joachim Körber, Eva Bauche- Eppers oder Michael Siefener sehr zufriedenstellend übersetzt worden sind. Dass alle Texte auch noch aus dem näheren Umfeld der Bram Stoker Preis Nominierten oder gar Sieger stammen, ist der krönende Abschluss dieser Anthologie, die von einem stimmungsvollen, zeitlosen Titelbild eingeläutet wird.

Jeffrey Thomas „Geister in Bernstein“ ist eine dieser bizarren Geschichten, in denen der Leser nicht weiß, ob der Protagonist von außen manipuliert wird oder schon dem Wahnsinn verfallen ist. Aufgrund der finanziellen Krise haben der Protagonist und seine Frau ihr kleines Häuschen an die Bank verloren und leben in einem hellhörigen Haus. Wie magisch wird der Mann von einer verlassenen Fabrik angezogen,  in deren Hallen er seltsame Entdeckungen macht. Schon früh in seiner Kindheit hat sich eine Angst vor Spinnen entwickelt, aber dieser Aspekt entwickelt Jeffrey Thomas nicht mehr weiter. Er entwickelt eine beklemmende, verstörende Atmosphäre, hat aber Schwierigkeiten, dieses Stillleben zufriedenstellend aufzulösen.

Auch wenn die Pointe in ihrer Größe, aber nicht den entsprechenden Details früh zu erkennen ist, lebt W.H.  Pugmires „Lache, Bajazzo" handelt von der wunderschönen Zeichnung der exzentrischen, aus einer Welt stammenden Charaktere. Der Protagonist hat sich für einige Monate von der Welt verabschiedet, um in einer kleinen angemieteten Wohnung seinen ersten Roman zu schreiben. Ein klassisches, vielleicht fast schon klischeehaftes Sujet. Er lernt seine attraktive Nachbarin kennen, die ihn bittet, gemeinsam den gerade aus Europa in die USA gereisten Onkel zu besuchen.  Wie Lovecrafts beste Texte verbindet W.H. Pugmire Aspekte der klassischen Musik mit der europäischen Sagenwelt. Die finale Begegnung ist bizarr, der Auslöser der letzten „Verwandlung“ über die Musik hinaus ist nicht deutlich herausgearbeitet. Wie Lovecraft vertraut Pugmire vor allem auf Improvisationen und konzentriert sich auf Stimmungen denn klassische Spannung. Stilistisch auch in der deutschen Übersetzung überzeugend ist Pugmire einer der Lovecraft Epigonen, die damals wie heute es schwer haben, einen eigenen Markt zu finden und trotzdem auf einem erstaunlichen Niveau stoisch ihre Geschichten für die Nachwelt – Pugmire ist 2019 verstorben – verfasst haben.   

Scott Thomas „Die Lichtung“ beschwört auch den Urschrecken. Eine Großmutter geht mit ihrer Enkelin auf eine nahe gelegene Lichtung, wo das kleine Mädchen wertvolle Steine gefunden hat. Die Beiden werden von kalten, stummen Menschen eingeschlossen. Scott Thomas konzentriert sich auf eine morbide Atmosphäre des Schreckens, nicht einmal tief in den amerikanischen Wäldern inklusive eines konsequenten, dunklen, die bisherigen Ereignisse in ein neues Licht rückenden Endes.

 „Auch im Dunkel werde ich Dich finden“ von Jessica Landry ist eine Science Fiction Geschichte. Die Protagonistin räumt in einer näheren Zukunft die Wohnungen der frisch verstorbenen Menschen ohne Angehörige aus, säubert sie und stellt sie dem nächsten Mieter in dem Millionenmoloch einer namenlosen Stadt zur Verfügung. Mittels Coputerchips können die Menschen sich Erinnerungen einpflanzen. Natürlich gibt es einen legalen Markt, aber auf dem Schwarzmarkt sind die interessanten Chips, bis die Protagonostin bei einem ihrer letzten Aufträge einen Chips benutzt, der buchstäblich mittels einer dunklen Masse in ihr kleben bleibt, aber vor allem auch eine besondere Botschaft in sich trägt.

 Beginnend mit der dystopischen Zukunft entwickelt sich eine emotional überzeugende Geschichte mit einer Ich- Erzählerin als Protagonistin, die mit ihrer zynischen Cyberpunk und Alleine-gegen-den-Rest-der-Welt-ehemals- Junkie Art am Rande des Klischees gezeichnet worden ist und trotzdem überzeugen kann. Die Handlung ist solide, die Erklärung in technischer Hinsicht ein wenig schwammig, aber inhaltlich schwimmt die Story sehr gut gegen den Strom dieser Weird Fiction Anthologie.

 „Von Wölfen und Menschen“ (Stephan Graham Jones) ist beginnend vom Titel mit seiner Anspielung auf Steinbecks Roman „Of Mice and Men“ eine originelle Variante der bekannten Werwolfstoffe. Wieder steht ein Ich- Erzähler im Mittelpunkt. Seine Verwandten kümmern sich um ihn, wobei insbesondere der Onkel Probleme hat, seine Identität als Werwolf geheim zu halten. So stört einen Highway Polizisten die Nutzung von Alkopops hinter dem Steuer eines Schwerlasters. Diese Mischgetränke haben natürlich im Gegensatz zu Frischfleisch oder Blut keinen Einfluss auf einen Werwolf, was dieser Bulle schmerzlich zu spüren kommt. Die anschließend häusliche Szene zwischen Herrn und Frau Werwolf ist bis an die Grenze der Parodie köstlich und voll pointierter Dialoge. Da die Story ausschließlich aus der Perspektive der Werwölfe der ersten Generation erzählt worden ist und diese nicht durch das Werwolfvirus infiziert worden sind, agieren sie tragisch entschlossen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgend.

 Stephen Graham Jones ist sich aller Gesetzmäßigkeiten des Genres zwar bewusst, verfremdet sie aber auf die originelle Art und Weise, die vor allem das amerikanische Kino mit verschiedenen Horror Roadmovies – „Near Dark“ oder „Vampyres“ für die klassischen Blusauger – für sich eingenommen hat. Bei dieser Kurzgeschichte handelt es sich um eine Art Prolog zu Stephen Grahams Jones später veröffentlichten Roman „Mongrels“, der bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden ist.  

 „Der Gesang der Sirene“ (Anne Neugebauer) ist handlungstechnisch was schon ein Miniatur Stillleben und trotzdem eine der kraftvollsten Geschichten dieser Anthologie. Schönheit kann stellenweise nur aus Schmerz erwachsen und während die jugendliche Protagonistin der Musik der Sirene lauscht, aber nichts sehen kann, sind die Zuschauer in den ersten Reihe angesichts der masochistischen Praktiken schockiert und verstört. Aber der Musik kann sich niemand wirklich entziehen.

 „Altar“ von Philip Fracassi ist eine dieser seltsamen Weird Geschichten, die als Lektüre besser funktionieren denn bei einer Nacherzählung. Eine in Scheidung befindliche Mutter fährt mit ihren drei Kindern zu einem Schwimmbad in der Nähe. Es ist heiß, die Kinder freuen sich auf die Abwechselung. Aber in der Mitte des Schwimmbads lauert das Böse. Die Zusammenfassung wirkt stereotyp, aber dem Autoren gelingt es, die einzelnen Figuren mit Leben zu erfüllen und vor allem deren alltägliche Gedanken – von den aufgeregten Kindern bis zur Mutter, die sich nicht damit abfinden kann, dass ihr baldiger Ex- Mann es jetzt mit einer Lehrerin treibt – schließlich in den Plot einfließen. Das „Böse“ erscheint aus dem Nichts, wird auch nicht weiter erläutert. Philip Francassi vertraut vor allem den Stimmungen und der morbiden Atmosphäre mitten an einem heißen, Sonnenüberfluteten Tag.

 Auch Christopher Slatsky „Der unermessliche Kadaver der Natur“ leidet unter dem sehr offenen Ende, das sich in verschiedene Richtungen interpretieren lässt. So könnte die ganze Geschichte eine Art Alptraum darstellen. Oder der Tatsache Zeugnis sprechen, das jegliche Form von Tod – Selbstmord oder Mord – nicht das Ende darstellt. Der Leser wird zwar zum Nachdenken gezwungen, aber der Weg dahin ist viel interessanter und vielschichtiger.

 Im Mittelpunkt steht eine Anthropologin, die für die Gerichtsmedizin arbeitet. Sie wird zu einem bizarren Selbstmord einer Sekte gerufen, deren Mitglieder sich auf unterschiedliche Art und Weise über mehrere Wochen umgebracht haben. Seltsame Vogelscheuchen bewachen das Grundstück. Die Protagonistin findet einen Kinderschädel, obwohl angeblich auf dem Grundstück keine Leichen von Kindern gefunden worden sind.

 Der Autor klärt die Leser rückblickend nicht über alle Fakten auf. Nicht selten vertraut er der morbiden Stimmung; hofft, das sich die Leser den verschiedenen Spekulationen anschließen. Einzelne Kapitel werden durch Aufzeichnungen der Sektenanführerin – lange Zeit eine führende Biologin – eingeleitet, die eher ablenken als Aufklärung anbieten. Viele der beschriebenen Funde bleiben dem Leser unangenehm im Gedächtnis und nicht umsonst nähert sich der Plot dem grotesken Splatterhorror. Hierauf weist auch ein entsprechender Film hin, der in der an das Grundstück der Sekte grenzenden Stadt trotz oder vielleicht wegen der ganzen Ereignisse aufgeführt wird.

 Die Protagonistin mit ihren Selbstzweifeln, aber auch ihrer Drogensucht – anders kommt sie mit dem Druck nicht mehr klar – ist eine interessante, dreidimensionale Figur, deren Schicksal der Leser auf Augenhöhe vielleicht nicht „gerne“, aber sehr interessiert verfolgt. Sie bietet sehr viel Potential, so dass ein wenig kryptisch konstruierte Ende mit einer weiteren Möglichkeit eher Türen verschließt als weiteren Spekulationen den entsprechenden Raum verleiht.

 Richard Gavin extrapoliert eine H.P. Lovecraft Geschichte. Es ist nicht unbedingt notwendig, „The Hound“ (1924 erschienen) zu kennen, aber es hilft. In Briefform berichtet der Erzähler von der Suche nach dem verschwundenen Bruder der Mutter. Anscheinen hat sich der verschwundene Bruder für das Okkulte interessiert und hat einen seltsamen, kaum bekannten Friedhof gesucht. Am Ende zeigt sich, dass aus dieser Suche eine neue Existenzform entstanden ist. Richard Gavin präsentiert in seiner kurzen Geschichte das entsprechend schlagkräftige Ende und sucht keine Auswege. Die einfache Struktur des Textes könnte ein wenig täuschen. Die Andeutungen des allgegenwärtigen Bösen sind ausreichend subtil, mittels der Briefform folgt Richard Gavin der distanzierten Art der Erzählung, welche H.P. Lovecraft auszeichnet und am Ende hat der Leser das Gefühl, als erwecke der Amerikaner die kosmischen Kreaturen aus Lovecrafts Mythen wieder zum Leben. In vielen Punkten die neben Ramsey Campbells Novelle beste Hommage an H.P. Lovecraft, auch wenn das nicht die originäre Intention dieser Anthologie ist.      

 Ein der kürzesten Geschichten dieser Sammlung ist Maura McHughs“Diät“. Auf den ersten Blick erinnert der Text ein wenig an Richard Bachmanns „Thinner“, aber es ist kein Fluch, sondern erstens die Trennung seiner Freundin und zweitens eine neue Diät mit einer Art nach Fisch schmeckenden Getränk, das den Protagonisten wieder zu einem schlanken, leistungsfähigen Mitglied der stereotyp agierenden Gesellschaft macht. Die Miniatur ist zwar eine Hommage an H.P. Lovecraft, aber im Gegensatz zu den klassischen Kräften des „Bösen“ beschwören schließlich die zwölf Mitglieder des Abnehmclubs etwas Neues/ Altes herauf, das sich dem Leser durch das offene Ende nicht gänzlich erschließt. Neben einigen bitterbösen männlichen Kommentaren auf den Egoismus der Frauen ist es dank der pointierten Dialoge eine interessante Variation klassischer Handlungsmuster.

 „Die Männer von Porlock“ (Laird Barron) ist eine der am meisten überraschenden Geschichten dieser Sammlung. Laird Barron ist kein so bekannter Name, aber ein herausragender Erzähler mit einem stimmigen Gefühl für die richtige Atmosphäre und einen zeitlosen Schrecken. Eine Gruppe von Mitgliedern einer Holzfällermannschaft dringt in den zwanziger Jahren – es gibt immer wieder Verweise auf den Ersten, aber nicht den Zweiten Weltkrieg – in die dunklen Wälder um ihre Arbeitsstätte ein, um Rotwild für den dominanten Chef zu jagen. Als drei ihrer Mitglieder in den Wälder verschwinden, stoßen sie auf eine Gruppe von Menschen, die abgeschieden ihren eigenen Regeln folgend leben und kein Interesse haben, das ihre Geheimnisse an die Öffentlichkeit dringen.

 Laird Barron nimmt sich ausreichend Zeit, um den Plot zu entwickeln. Er stellt die einzelnen, markant charakterisierten Männer mit ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen gegenüber, um sie dann zusammen mit den Lesern in einen bizarren Abgrund voller Schrecken zu stoßen, aus dem es fast kein Entkommen gibt. Das „fast“ bezieht sich auf das morbide, subtile und vor allem zeitlose Ende dieser teilweise ausgesprochen brutalen, aber mitreißenden Lost Race Geschichte in die dunklen Wälder Nordamerikas, die nicht nur Lovecraft so fasziniert haben

Der längste und letzte Beitrag der Anthologie ist die von Joachim Körber übersetzte Novelle „Die letzte Offenbarung von Gla Áki“ , die nicht nur tief in Lovecrafts Mythen verwurzelt ist, sondern vor allem die erste Fassung des britischen Films „The Wicker Man“ spurtechnisch kopiert und abschließend überraschend extrapoliert.

Die Geschichte ist geographisch in Severn Vally angesiedelt, das Ramsey Campbell für seine frühen Kurzgeschichten – viele 1964 gesammelt in „The Inhabitant of the Lake and Less Wellcome Tenants – nicht nur erfunden, sondern kontinuierlich ausgebaut hat. 2003 nitzte Campbell diesen Hintergrund für seinen Roman „The Darkest Parto oft he Woods“, bevor er mit dieser umfangreichen Novelle wieder den umfangreichsten Mythos außerhalb von Lovecrafts direkter Schöpfung mit mysteriösem Leben erfüllt hat.

  Der erste Schritt ist immer das Anlocken des Opfers. Leonard Fairman – ein Archivar an der Brichester Universität – schreibt einen Artikel über ein verschwundenes Buch „The Revelation of Gla´aki“, dessen Inhalt ins Reich der Legenden hinüber gewandert ist. Anscheinend gibt es keine Ausgabe des Buches mehr.

 Kaum ist der Artikel online, kommt ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. Als Bezahlung muss er eine Nacht in der Küstenstadt Gushaw verbringen. So ist Fairmans Plan, aber die Einwohner der Stadt haben natürlich andere Pläne in dieser seltsamen Touristenstadt mit Menschen in Plastikschuhen Tag und Nacht am Strand. Kaum angekommen, muss Fairman erkennen, dass das Buch nicht eine gebundene Ausgabe ist, sondern aus mehreren Teilen – insgesamt 9 - besteht und die Einwohner der Stadt ihn wie bei einem Tanz durch die Stadt treiben. Dadurch muss er auch mehr Zeit in dem Ort verbringen als geplant.

 Ramsey Campbell ist ein Roman- und ein Kurzgeschichtenautor. Es gibt nur sehr wenige Novelle aus seiner Feder, obwohl er nicht nur in „Needing Ghosts“, sondern auch in dieser Geschichte beweist, dass das Format für seinen subtilen Schrecken geradezu perfekt ist.

 Beginnend mit der Anreise in dieser in mehrfacher Hinsicht feuchten kleinen Stadt wird der Leser auf Augenhöhe des naiven und stellenweise auch ein wenig arroganten Fairman durch den Ort getrieben. In der Tradition Lovecrafts erwartet der Leser an jeder Stelle eine  Bedrohung. Hinsichtlich der morbiden Atmosphäre und den seltsamen Bewohnern geht Campbell nicht mal subtil vor. Ein Buchhändler, ein Arzt, eine Kindergärtnerin, der Leiter des Beerdigungsinstituts oder schließlich der Pfarrer nicht alles Protagonisten, die in ihrer Exzentrik jederzeit zu Gewalttaten neigen könnten, um die wertvollen Teilbücher zu behalten. Fairman sieht mehr und mehr an jeder Ecke einen Schrecken, während er sich nachts in seinem kleinen Hotelzimmer in den seltsamen okkulten Schriften vertieft. Teilweise wirken seine Protagonisten wie Parodien auf das britische Kleinstadtleben. Egal ob es sich um das für Horror eher geeignete klassische britische Hinterland handelt oder wie in diesem Fall einen Ort, an den sich Touristen verirren könnten, aber nicht müssen.

 Die Stärke dieser Novelle  liegt in ihrem paranoiden Realismus. Aus der Distanz handelt es sich fast um einen alltäglichen Besuch eines Mannes, dem die Gemeinde ein ungewöhnliches Geschenk geben möchte, um es der Nachwelt zu erhalten. Als Horror bzw. Weird Geschichte sucht der Leser förmlich in jeder Wendung; jedem Versuch, Fairman länger im Ort zu behalten, die Gefahr. Dass der Tanz bzw. die Suche in der kleinen Kirche endet,  ist für erfahrene Horror Leser das letzte Zeichen, das Fairman Unheil droht. Und an dieser Stelle dreht Ramsey Campbell seine Novelle noch einmal auf links und überrascht nicht nur Lovecraft Fans. Es ist ein Ende, das eher Jonathan Carroll mit seinem Debüt „Das Land des Lächelns“ zur Ehre gereicht als Lovecraft.    

 Fairman ist ein klassischer Verlierer, der unter dem Daumen seiner gesichtslosen, aus der Ferne fast schon Kommandos gebenden Freundin steht. Der sich am liebsten innerhalb seiner Bücher in Luft auflöst und Angst hat, Spuren zu hinterlassen oder im mit dem Nebenzimmer geteilten Bad Geräusche von sich zu geben. Er lebt für seine Bücher, hat Angst vor seinem Chef in der Bibliothek. In der kleinen Stadt muss er mit den Mitmenschen interagieren. Dabei überspannt Campbell mit den ausführlich beschriebenen Gerichten, deren Bestandteil aber immer fischig bleiben; den menschenleeren Gassen und den manchmal exzentrisch surreal agierenden Einwohnern fast schon den Bogen. Krampfhaft bemüht im positiven Sinne versucht der Brite eine Bedrohungslage zu inszenieren, damit der Plot sich unabhängig von der Suche nach den Büchern vorwärts bewegt. Diese Vorgehensweise grenzt an eine im Genre typische Manipulation der Leser, ist aber nicht unbedingt notwendig.  Die Novelle trägt sich sehr gut von den Stimmungen und zwischenmenschlichen Beziehungen her. Campbell baut eine Erwartungshaltung auf, die er nicht einlösen möchte oder einlösen kann.      

 Arthur Machen und Algernon Blackwood haben auf diese Vorgehensweise gesetzt und damit ungewöhnliche Geschichten geschrieben. Im Gegensatz zu Blackwood oder Machen verzichten Lovecraft und damit auch Campbell auf Rahmen, sondern konzentrieren sich auf eine erstaunlich geradlinige Erzählstruktur. Wer Ramsey Campbells Werk seit Jahrzehnten verfolgt, wird in dieser neuen Geschichten Strukturen seines alten Werks entdecken. Aber behutsam modernisiert. Es ist die buchstäblich letzte Offenbarung des geheimnisvollen Autoren, die fasziniert und gleichzeitig überrascht.

 So präsentiert Ramsey Campbell auf der einen Seite eine interessante, lesenswerte Lovecraft-Hommage, auf der einen anderen Seite eine tief im eigenen Severn Valley Kosmos verankerte Story von nicht kosmopolitischer, sondern ureigener zwischenmenschlicher Bedeutung.  Und Lovecrafts alte Götter werden mit diesem Ergebnis irgendwie zufrieden sein.

 Die erste Weird Anthologie des Wandler Verlags präsentiert ein breites Spektrum von nicht klassischen und damit stereotypen Horrorgeschichten. Michael Schmitt hat bei seiner Suche nach Autoren/ Themen und Geschichten Wert darauf gelegt, dass neben originellen Themen auch einige Würdigungen Lovecrafts und dessen Werk zu erkennen sind. Alle Storys sind stilistisch ansprechend und wie schon erwähnt sehr gut übersetzt. Es handelt sich um stimmungsvolle Kleinode der gegenwärtigen Phantastik, die ohne diese mutige Anthologie nicht den Weg nach Deutschland gefunden hätten. Zwar tauchen einzelne, hier eher unbekannte Autoren wie W.H.  Pugmire inzwischen in Kleinverlagen auf, aber der breiten Massen sind sie unbekannt, was dieser Text auf eine sehr zufrieden stellende Art und Weise verändert.     

Wandler Weird Anthologie

  • Herausgeber ‏ : ‎ Wandler Verlag (14. August 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 462 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3948825122
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3948825126
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 16 Jahren
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