Das Grauen von Dunwich

H.P. Lovecraft

Nach „Cthulhus Ruf“ und dem Doppelband „Die Berge des Wahnsinns“ präsentiert der Heyne Verlag mit „Das Grauen von Dunwich“ die dritte posthume Zusammenarbeit zwischen H.P.  Lovecraft und dem Maler und Set Designer Francois Baranger.  Die Übersetzung stammt von H.C. Artmann.

Baranger hat es vielleicht mit dieser Geschichte auf der einen Seite am Leichtesten, auf der anderen Seite aber auch am Schwersten. Das Grauen spielt sich bis zum Finale ausschließlich in den Köpfen der direkt oder indirekt beteiligten Menschen ab. Als Teil des Cthulhu Mythos ist es die Geschichte, die am Weitesten vielleicht ausholt, um eine im Grunde aufs Rudimentärste reduziert klischeehafte Bedrohung aus dem ambivalenten Jenseits – das bezieht sich sowohl auf die Zeiten wie auch den Raum – zu beschreiben. Aber H.P.  Lovecraft verbindet in dieser Geschichte seine Faszination des 18., vielleicht noch 19. Jahrhunderts im amerikanischen Hinterland mit mystischen Büchern wie dem „Necronomicon“, aber auch Arthur Machen – der irische Autor wird zum wiederholten Male explizit in der Geschichte erwähnt. Lange Zeit kann sich Francois Baranger auf stimmungsvolle, düstere Bilder der unendlich wie undurchdringlich wirkenden Wälder, der in kärglichen Verhältnissen lebenden Menschen und ganz selten die Universitätsstädte konzentrieren. Aber wie Lovecraft baut er kontinuierlich eine bedrohlich nihilistische Atmosphäre auf, welche die Bewohner Dunwich mehr und mehr unter seiner Kontrolle bringt, während Rettung nicht von den Ordnungskräften, sondern nur den Intellektuellen der naheliegenden und über ein vollständiges Exemplar des „Necronomicons“ verfügenden Universität kommen kann.

H.P.  Lovecraft hat die Novelle 1928 verfasst. Sie erschien im April 1929 im Magazin „Weird Tales“. Sie spielt fast ausschließlich in der fiktiven Stadt Dunwich/ Massachusetts.   Wie Arthur Machen ist H.P. Lovecraft von schwer zugänglichen Hügeln fasziniert, unter denen nach seiner Ansicht Dinge liegen oder lauern, die besser nicht ans Tageslicht kommen sollten. Für seine fiktive Stadt in der Nähe von Arkham hat er sich allerdings die realen Hügel im Miskatonic Valley ausgesucht, wobei die Grundlagen der Geschichten auf alten Legenden (neben der Arthur Machen Hommage) basieren, die H.P. Lovecraft laut einem Brief an seinen Freund und späteren Nachlassverwalter August Derleth bei einem Besuch in Wibraham teilweise aufgeschnappt hat . Kritisch gesprochen ist das Korsett der Geschichte aber zum wiederholten Male von Arthur Machen entliehen und auf das amerikanische Hinterland umgeschrieben. Neben „The Great God Pan“ – diese Geschichte wird wie schon erwähnt explizit angesprochen – könnte auch „The Novel of the Black Seal“ den Amerikaner inspiriert haben, denn in beiden Geschichten geht es um halb menschliche Wesen, deren Erzeugungsprozess etwas pervertiert gottgleiches hat. So kennt niemand den Vater von Wilbur Whateley. Seine Mutter Lavinia Whateley ist eine körperlich behinderte (Lovecraft spricht von verformt) Frau mit einer Albinohaut, die es liebt, während der Stürme durch die dunklen Wälder zu wandern. Gegen eine Inzestthese – sie lebt mit ihrem Vater Old Whateley in einem heruntergekommenen, einsam gelegenen Farmhaus – spricht die Vehemenz, mit welcher sich Old Whateley gegen diese Art der Gerüchte wehrt und das er davon spricht, den Vater seines Enkels irgendwie zu „kennen“.

Einige Forscher haben inzwischen auch Ähnlichkeiten zu Margery Williams „The Thing in the Woods“ festgestellt, wobei nicht nur die Idee zweier Brüder – von denen einer weniger menschlich ist als der Andere und beide in einer ärmlichen Hütte einsam in den Wäldern lebend - von Lovecraft auf eine Vater- Sohn Konstellation (die Mutter lebt zwar noch mit den beiden Männern, spielt aber keine wichtige Rolle mehr ) umgeschrieben sein könnte. Bei Williams und Lovecraft kommt das „Ding“ wahrscheinlich aus einer der Höhlen in den Wäldern. Der Unterschied ist das “Aufwachsen”  im Farmhaus der Whateleys über einen längeren Zeitraum  auf. Hier muss die Novelle im Rahmen ihrer Zeit betrachtet werden. Das Verstecken von unliebsamen “Geschwistern” hat vor allem in der romantischen Unterhaltungsliteratur eine lange Tradition. “Der Mann mit der eisernen Maske” von Alexandre Dumas wäre vielleicht das spektakulärste Beispiel. Auch wenn sich Lovecraft bemüht, auf Klischees zu verzichten und Spannung zu erzeugen, gelingt es dem Amerikaner zu wenig. Der Leser ist bis auf die Details nicht nur ihm mindestens einen Schritt voraus.  Es wundert nur, dass die naiven Nachbarn nicht schneller hinter das mögliche Geheimnis der Umbauten im Haus der Whateleys kommen. Auf der anderen Seite ist es eine Horror/ Gruselgeschichte und da ist die Erwartungshaltung der Leser anders als bei den Nebenfiguren in Lovecrafts Geschichte.  Lovecraft präsentiert ein kraftvolles, verstörendes Ende, das die Filme David Cronenbergs um mehr als  fünfzig Jahre vorweg nimmt. Die Verbindung zwischen Dingen aus anderen Dimensionen, unendlichen Räumen und dem Schrecken direkt um die Ecke beschreibt  H. P. Lovecraft in vielen seiner Geschichten, aber mit der Kreatur aus Dunwich erreicht er eine einzigartig bizarre Dimension, von welcher Horrorautoren und Filmemacher seit Generationen zerren.     

H.P. Lovecraft greift gerne auf Erzähler zurück, die dem Leser aus einer gewissen Distanz das Geschehen übermitteln. Dabei greifen sie wie in “Der Flüsterer im Dunkeln” dem Geschehen voraus. Bei der vorliegenden Novelle ist das nicht der Fall. Dabei umfasst die Handlung fast zwanzig Jahre von der Geburt des Jungen und dem später sehr frühreifen Wilbur Whateley bis zur finalen Konfrontation, die fast zur Entstehungszeit der Geschichte spielt. 

Erst in der zweiten Hälfte der Geschichte fasst der Bibliothekar Henry Armitage die Ereignisse zusammen und übernimmt während des Finals - eines Kampfs gegen böse Magie mittels Magie - die Führung einer kleinen Gruppe von drei Männern, die alle Schreibtischtäter sind. Sie erweisen sich allerdings als schlauer im Vergleich zu den örtlichen Polizisten, die relativ schnell in der Höhle verschwinden und nicht mehr gesehen werden. In seiner Lovecraft Hommage “The Nameless” hat Ramsey Campbell eine vergleichbare Passage verfasst, nur das sein Böses in den amerikanischen Sektenführer eindringt, während andere Besucher aus der dunklen Höhle am Fuße des Berges nicht mehr zurückkommen. 

Die erste Hälfte der Geschichte mit Wilbur Whateley schnellem Heranwachsen ( er kann mit 11 Monaten sprechen, mehr zehn Jahren sieht er bei 2 Meter Körpergröße wie ein Erwachsener aus) und dem seltsamen Verhalten seines Vaters - er kauft immer wieder bei den Nachbarn Vieh, das er mit alten Goldmünzen bezahlt, auch wenn seine Herde von außen betrachtet nicht größer wird - fasst Lovecraft in einer distanzierten Art und Weise zusammen. Die Nachbarn tuscheln, allerdings verzichtet der Amerikaner auf entsprechende Dialoge und baut dieses Lästern in seine übergeordnete, strukturierte und erstaunlich wenige emotionale Erzählung ein. Ein kleiner Zeitungsartikel ist das einzige, was aus der Gemeinde dringt. 

Mit dem Versuch, in die Bibliothek einzubrechen und Henry Armitages/ Wilbur Whateleys zweiter Begegnung nimmt die Handlung deutlich an Fahrt auf und H.P. Lovecraft lässt ab diesem Moment seine Leser das Geschehen auf Augenhöhe verfolgen. 

Das Finale - dargestellt von wirklich eindrucksvollen Bildern - ist der Kampf der Intellektuellen gegen die primitiven alten Legenden, die Rituale der “Ureinwohner”, welche im nicht nur amerikanischen Hinterland Generationen überdauert haben. Es spricht für Lovecraft, das gegen diese überwiegend unsichtbare Böse - nur wenn es mit einer bestimmten Flüssigkeit bestäubt wird, erscheint es für einen schrecklichen moment sichtbar - nur magische Beschwörungsformeln helfen und die Wissenschaftler im Grunde auf die schriftlichen Hilfsmittel zurückgreifen müssen, welche sie als aufgeklärte Forscher ablehnen. Diesen Widerspruch löst H.P.  Lovecraft in dieser Novelle nicht auf. Dazu ist das finale Tempo zu hoch, aber es ist bezeichnend, dass die Bewohner Dunwich am Fuss des Hügels verbleiben, Angst haben, die mutigen Forscher zu begleiten und die finale Auseinandersetzung alleine durch ein Fernglas verfolgen. 

Mit der ambivalent beschriebenen Kreatur aus verschiedenen Dimensionen hat Lovecraft nicht nur einen Schrecken aus dem Jenseits erschaffen, der ganz den Ideen der Großen Alten entspricht, sondern gleichzeitig bleibt der Amerikaner erstaunlich vage, oberflächlich. Die Bilder Barangers können auch nicht die hunderte von Augen und Mägen beschreiben, die den Forschern einen Augenblick erscheinen. Aber trotz seiner Größe, seiner Kraft ist er in den Bergen unbeweglich und die richtige Positionierung ermöglicht den Sieg. Im Gegensatz zu vielen anderen Lovecraft Geschichten scheint dieses Mal mit dem “Tod” der letzten männlichen Whateleys das Böse gebannt zu sein. Es gibt zwar noch weitere, von Lovecraft als nicht degenerierte Namensvetter bezeichnete entfernte Verwandte in Dunwich, aber sie haben einen höllischen Respekt vor allem Übernatürlichen.

Das Ende der Geschichte zeichnet sich - allerdings klassischen Horror-Strukturen folgend-    durch ein hohes Tempo und beginnend mit der Übersetzung der doch irgendwie englischen Texte aus dem Tagebuch Wilburs einer sehr stringenten Handlung aus. Im Gegensatz zu Arthur Machen eher bodenständigen Geschichten basierend auf alten irischen Legenden ist zwar die Herkunft der Kreatur vage beschrieben, der Erzeugungsprozess wie eine Anti Gott Empfängnis, herbeigeführt aber von gierigen Menschen. Lovecrafts Protagonisten ordnen sie erstaunlich direkt dank der Lektüre der alten Schriften einem kosmopolitischen Ansatz zu. Nur ein kleiner Teil ist menschlich, der Rest wächst überdimensional zusammen. Hintergründig machen die Beschreibungen vielleicht keinen Sinn, aber es handelt sich bei “Das Grauen von Dunwich” auch um keine Science Fiction Geschichte, sondern klassischen Horror. Und in diesem Subgenre ist jede Art von Erklärung erlaubt. 

Die Gemälde Barangers werden immer bizarrer, ohne dass der Maler seinen Stil verlässt. Beginnend mit realistischen Zeichnungen des alten Amerikas, das Lovecraft fast dickköpfig so verehrte, ohne selbst in diesen Zeiten gelebt zu haben, endet seine Galerie des Schreckens mit der angesprochenen, schwer zu beschreibenden und bizarren Kreatur. Damit folgt Baranger effektiv auch dem Tempo  Lovecrafts, dessen Novelle zu Beginn sich trotz des bizarren Themas erstaunlich ruhig entwickelt und dann an Tempo gewinnt. Wie gut die beiden Künstler zusammenarbeiten, lässt sich nicht nur an der vorliegenden Geschichte nachvollziehen. 

„Das Grauen von Dunwich“ ist ein zentraler Bestandteil der Cthulhu Mythos. Es ist gleichzeitig eine pervertierte Geschichte von Familienbande und väterlicher, vielleicht auch brüderlicher Liebe. Es ist gleichzeitig eine Saga von klassischen Dimensionen, um die Geister, die gerufen worden sind, welche sich aber nicht mehr kontrollieren lassen. Lovecraft fordert die Geduld seiner Leser raus, in  dem er die Stimmung des amerikanischen, degenerierten Hinterlandes mit seinen Mythen; seinem Klatsch und  Tratsch sowie dem herausfordernden Leben im frühen 20. Jahrhundert beschreibt, das so ganz anders als in den Großstädten ist, die Lovecraft aus eigener New Yorker Erfahrung verabscheute. Auch wenn keine der Figuren Sympathieträger sind, entwickelt Lovecraft eckige, kantige Protagonisten. Klassische Antagonisten; Verbrecher gibt es nicht. Die Menschen sind höchstens fehlgeleitet und verführt.

Gegen Ende der Geschichte ist das Tempo zu hoch und die Spannungskurve mit dem ersten (und einzigen) Versuch, das unbeschreibliche Monster nicht nur sichtbar zu machen (obwohl das für den finalen Zauber nicht notwendig, sondern eher cineastisch zu betrachten ist) und mittels Magie wieder zu bannen wirkt plötzlich hektisch, fast abrupt beendet. Umfang Technisch fällt „Das Grauen von Dunwich“ zwischen  zwei Stühle. Für eine „Weird Tales“ Nummer ist der vorliegende Umfang  gegen Ende der Geschichte irgendwie ein wenig gestutzt worden, für zwei Ausgaben reicht der Text nicht aus. Es ist allerdings die einzige Schwäche einer klassischen Lovecraft Geschichte, die vom französischen Maler expressiv, aber mit sehr viel Respekt in eindrucksvollen Bildern begleitet wird, wobei stilistisch sich Lovecraft eher an alten Zeitungsberichten orientiert hat. Ob dieser zusätzliche Distanz Aufbau Absicht gewesen ist, um das Geheimnis länger autoren technisch bei sich zu behalten, lässt sich nicht mehr feststellen, auf jeden Fall verlangt dieser Art der Erzählung noch ein wenig mehr Geduld von den Lesern, für welche er am Ende der Geschichte allerdings auch belohnt wird.   



Das Grauen von Dunwich: Durchgängig farbig illustrierte Ausgabe im Sonderformat

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (13. Dezember 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 64 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 345327458X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453274587
  • Originaltitel ‏ : ‎ The Dunwich Horror illustrated (L’abomination de Dunwich illustrée)
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