Clarkesworld 107

Clarkesworld 107, Neil Clarke, Thomas Harbach, Rezension
Neil Clarke

“Clarkesworld 107” ist eine schwierig zu greifende Ausgabe. Die beiden Nachdrucke sind ungewöhnlich, während die emotional ansprechenden neuen Geschichten den Leser eher mitziehen. „Today I am Paul“  nutzt eine bekannte und oft verwandte Idee – ein Roboter als Lebenshelfer/ Pfleger und natürlich dadurch auch Vertrauter - , um eine rührende, vielleicht gegen Ende ein wenig kitschig undankbar erscheinende Geschichte zu erzählen. Aus der Perspektive des ambivalenten, sich quasi für seinen menschlichen Gegenüber verändernden Roboter wird erzählt, wie er sich um die alte, schließlich beinahe durch einen Unfall ums Leben kommende Frau/ Mutter/ Großmutter kümmert, während die Familie die offensichtlich senile Frau im Grunde abgeschoben und vergessen hat. Die Maschine ersetzt die zwischenmenschliche Wärme und scheitert schließlich doch auf eine vorhersehbare wie auch tragische Art und Weise. Solide, ruhig und pointiert geschrieben ist Martin L. Shoemakers Text ein guter Auftakt.

Sowohl Han Songs „Security Check“ als auch J.B. Parks „It was educational” spielen in Diktaturen, in denen die Bevölkerung systematisch unterdrückt wird. Während Park in seiner Pointe die Erwartungshaltung der Leser auf den Kopf stellt, inhaltlich aber zu wenig wirklich Nachhaltig liefern kann, ist Han Songs von Ken Liu übersetzte Geschichte eine politische Allegorie voller Sprengstoff. Park schildert das Schicksal eines von Polizisten während einer Demonstration verletzten Studenten, während Han Song eine USA beschreibt, in der beim Betreten der in der Post 09/11 Paranoia streng gesicherten U- Bahn jeder einem Sicherheitscheck unterworfen wird. Es gibt das Gerücht, das eine junge Frau sich dieser Kontrolle widersetzt hat. Als der Erzähler abwegige Ideen hat, wird er von seiner Frau denunziert und schließlich auch verhaftet. Nach drei Jahren Gefängnis darf er die immer hierarchischer und damit undemokratischer werdende USA in Richtung des freien Arbeiterparadieses China – freies Internet – verlassen und trifft dort auf eine Amerikanerin. Die intensive Geschichte steckt voller interessanter Ideen, die vielleicht in Form einer Allegorie die Überwachungsgesellschaft Chinas auf die USA als „Nation des Bösen“ übertragen hat. Verblüfft liest man von einem Volk, das sich durch die totale Kontrolle und die Sicherheitschecks quasi selbst auflöst und im Umkehrschluss isoliert. Es ist natürlich eine bitterböse Story, deren Kritik an der diktatorischen Hierarchie, dem Entziehen von Menschenrechten und einer totalen Gesellschaft Spiegel verkehrt erscheint. Vielleicht macht das den Reiz des Textes aus, aber sie gehört neben den lesenswerten Nachdrucken zu den besseren Arbeiten dieser Ausgabe, auch wenn einige Stellen belehrend und dadurch auch schwerfällig erscheinen. J.B. Park hat das Herz seiner Geschichte von zu wenig Fleisch umgeben, um nachhaltig überzeugen zu können. Die Pointe ist adäquat, der Weg dahin aber wirkt zu übertrieben und zu stark konstruiert, als das sie in dieser Form nachhaltig überzeugen kann.

Schon in der letzten Ausgabe hat der Herausgeber angekündigt, dass die höhere Internetauflage und die bessere Vermarktung es ermöglichen, längere Texte als bisher zu veröffentlichen. Mit mehr als vierzehntausend Wörtern gehört die vierte neue Story „The Servant“ von Emily Davenport – ihr zweiter Beitrag zu dieser Ausgabe  - in diese neue Kategorie der echten Novelle. Sie schafft es dem Thema Generationenraumschiff eine neue Wende zu geben. Eine Maschinenintelligenz/ ehemals menschliches Wesen/ modifizierte Tochter rächt sich an den Verantwortlichen an Bord eines zweiten Generationenraumschiffs, welches das Schwesterschiff, an dem sie und ihre Eltern gewesen sind, überfallen, ausgeplündert und schließlich zurückgelassen haben. Die Ich- Erzählerin ist als Dienerin hinüber gewechselt. Erst im Laufe der Jahre schlugen nicht nur ihre Modifizierungen durch, vor allem die Mission, die letzten Überlebenden des angegriffenen Raumschiffs zu töten und die Erinnerung an das Generationenschiff zu tilgen, lassen sie aktiv werden. Sie beginnt die Verantwortlichen zu töten. Mit einem Paukenschlag – die Ich- Erzählerin tötet auf eine emotionslose Art und Weise einen der Mörder- beginnt der Text. In Rückblicken eröffnet sich das ganze Szenario, wobei einzelne Szenen nicht immer konsequent genug ausgearbeitet erscheinen und die Autorin teilweise ein wenig unmotiviert zwischen den beiden Zeitebenen hin und her springt. Sie gibt zwar einen Einblick in die natürliche dekadente Kultur des Generationenraumschiffs, ist aber manchmal hinsichtlich der Beschreibungen – 200.000 Menschen an Bord und doch stundenlang die Chance, keinem Menschen in den langen Gängen zu begegnen – zu oberflächlich, zu ambivalent dem möglichen Szenario gegenüber.  Zusammengefasst eine interessante, nicht gänzlich befriedigende Rachegeschichte mit einem sehr langen Anlauf, die vor dem Hintergrund eines alten Science Fiction Themas trotzdem gut unterhalten kann.

Beide Nachdrucke beschäftigen sich mit Grundthemen, welche der Leser eher aus dem Western oder Abenteuerroman kennt, um sie dann entweder durch technologische Erfindungen oder exotische Hintergründe in den Bereich der Science Fiction zu übertragen.  „Dying Young“ ist ein fast klassischer und damit auch klischeehafter Western, der mit seiner Mischung aus „Shane“ – der heranwachsende Erzähler- und „Der Mann, der Liberty Wallace erschoss“ – alleine aufgrund der Wiedererkennungswerte überzeugen kann. Nur gibt es in diesem Wilden Westen intelligente, genetisch gezüchtete Drachen, die sogar mit der Waffe umgehen können.  Ruhig mit einer für den Western so typischen Salonszene aufgebaut entwickelt sich die Handlung ausgesprochen geradlinig und unterhaltsam.  Seit der Erstveröffentlichung vor zehn Jahren hat Neal Asher „Softly Spoke the Gabbleduck“ inzwischen in einen Episodenroman „The Gabble“ eingebaut, der sehr viele Informationen über den Hintergrund dieser exotischen Außerirdischen präsentiert. Daher wird der Leser trotz einer grundsoliden, von Asher durch den Hintergrund extrapolierten Handlung gut in das Universum eingeführt. Die am Rande des Inzests zusammenlebenden Zwillinge Tameera und Tholan töten bei einer Safari auf dem Planeten Myral ein Intelligenz Wesen der C- Klasse. Ein Verbrechen, das mit der Lösung des Bewusstseins bestraft werden kann.  Die Fremden entführen quasi als Ersatz für das getötete Wesen ein Mitglied der Gruppe und behüten es. Der Befreiungsversuch wird durch das Auftauchen des Gabbleducks vorläufig verhindert, wobei das Erscheinen dieses seltsamen, aber bedrohlichen Wesens eher katastrophale Auswirkungen hat. Auch wenn diese kurze Novelle nicht in dem teilweise überzogenen Stil mit absolutistischen Begriffen Neal Ashers niedergeschrieben worden ist, erdrückt der interessante, fremdartige Hintergrund sowie die Flora/ Fauna dieser Welt die Handlung. Das ist bei Asher keine Überraschung. In einem Roman kann er diese Schwächen überspielen, in einer Novelle weniger. Es ist keine Überraschung, dass insbesondere die genetisch gezüchteten Drachen aus „Dying Young“ länger im Gedächtnis bleiben als die mit sehr viel mehr Sorgfalt und Phantasie beschrieben „Gabbleducks“.      

Bei den sekundärliterarischen Beiträgen ragt keiner wirklich heraus.  „Fans are Slans“ setzt sich mit John W. Campbells Obsession zu bestimmten Themen auseinander. Der Autor Mark Cole verhehlt nicht, dass Campbell ein begnadeter Herausgeber und vor allem ein sehr guter Mentor für junge talentierte Autoren gewesen ist. Zusätzlich hat er seine eigene Schriftstellerei zum Fördern der Talente zurück gefahren. Auf der anderen negativen Seite neben seiner Dominanz ist Campbell auch ein Mann gewesen, der nicht loslassen konnte und deswegen heran gereifte Autoren verprellt hat. Auch wenn der Artikel negativ die Scientology Bewegung von Hubbard mit keinem Wort erwähnt, die Campbell in seinem Magazin „Astounding“ propagierte, konzentrierte er sich auf dessen Idee, mittels PSI Schwächen in der Technik auszugleichen. Stephen Baxter und Terry Pratchett haben darauf in der Serie um die „Lange Erde“ auch zurückgegriffen. Als Überblick eines komplexen Themas ausreichend vermisst der Leser doch an einigen Stellen die notwendige Tiefe.  Emily Devenport macht es sich mit „Another Word: Hipsters of Zombieland“ ebenfalls nicht einfach. Sie streift die neuen Inkarnationen der leben Toten und wägt sich gegen Romeros Meilensteine ab. Was sie aber nicht kann, ist eine eigene Meinung ausdrücken, so dass diese beiden Artikel neben dem erstaunlich oberflächlichen Vorwort deutlich im Vergleich zu vorherigen Ausgaben absinken. Auch das Interview mit dem Schwerpunkt „Writing for Video Games“ verschenkt unglaubliches Potential. Mit Robert Reed oder Karl Schroeder, mit jungen Wilden wie WE. Lily Yu hätte dieses Thema ausführlich behandelt werden können und wahrscheinlich auch müssen, aber weder springt der Funke über noch hat der Leser das Gefühl, als handeln Robert Reed und Karl Schroeder in der ungewöhnlichen Kooperation mit Spieledesignern wirklich aus Überzeugung und weniger des Geldes wegen.   

Von einem sehr schönen Titelbild eingeleitet präsentiert sich die „Clarkesworld 107“ wie schon angedeutet auf einem soliden, aber nicht mehr so gänzlich überzeugenden Niveau wie die letzten beiden Ausgaben, so dass man sich wie nach einem Besuch im Fastfood Restaurant fühlt. Ein wenig gesättigt, aber nicht wirklich mit einem vollen Magen.

http://clarkesworldmagazine.com/

Online Magazin, umgerechnet 128 Seiten