Clarkesworld 109- Oktober 2015

Neil Clarke; Clarkesworld 109, Rezension, Thomas Harbach
Neil Clarke (Hrsg)

In seinem Vorwort spricht der Herausgeber von der Situation der Kurzgeschichtenmagazine beginnend mit den großen Drei, die als einzige vollprofessionell Arbeiten. Die Argumentationskette bis zum Aufruf, entsprechende Abonnements abzuschließen, ist in sich logisch und zeigt eine immer deutlich werdenden schwierige Situationen für die kleinen Magazine von „Videowatchdog“ bis zu „Locus“, die auf Spenden abgewiesen sind. Als reines Online Magazine – zwar defizitär, aber kontrollierbar – umschifft „Clarkesworld“ viele Risiken, aber der Appell sollte nicht ungehört verhallen.

 Von den beiden Nachdrucken ist „War, Ice, Egg, Universe“ aus der Feder von Gerald David Nordley der längere Text. Ursprünglich 2002 erschienen könnte die Geschichte auf dem Jupitermond „Europa“ spielen. Vieles erinnert an die Romane, die Robert Forward vor vielen Jahren so exzellent geschrieben hat. Eine First Contact Geschichte vor einer exotischen Umgebung. Lange Zeit kann Nordley die Identität der Expeditionsteilnehmer geheim halten. Der exotische Hintergrund dieser eisigen Welt mit den dünnen Schalen, die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen insektoiden Stämmen und schließlich auf ein wenig konstruiert, aber emotional effektiv beschriebene Auflösung bilden ein unterhaltsames, vielschichtiges Garn, das einige so menschliche Themen anspricht und in einer fremden Umgebung extrapoliert. Es ist das zwölf Jahre später entstandene Nachwort, das einige Punkte relativiert. Nordley spricht offen davon, dass intelligente Wesen vielleicht tief unter ihren in diesem Fall Krusten auch „menschlich“ agieren können und das sich einige Züge durch den Kosmos ziehen. Eine schöne Wiederentdeckung, die vor allem den Blick auf den mehrfach für die wichtigsten Preise nominierten Autor und sein eher unbekanntes Werk frei gibt. Chris Beckets „The Peacock Cloak“ scheint anfänglich in die gleiche Richtung zu gehen. Aber dann erweitert sich der Hintergrund mit dem „Protagonisten“ Fabbro, der in einem von ihm geschaffenen virtuellen Universum insgesamt sieben Kopien von sich platziert. Eine – Tawus – entspricht der Vorlage, die anderen sechs sind mehr oder minder verzerrt dargestellt worden. Diese Sieben sind für Rebellionen, Kriege und damit einhergehend auch Evolutionen zuständig, so dass am Ende der Leser sich fragt, ob nicht aus die menschliche Geschichte im Grunde nur ein Theaterstücks eines Narren ist, das er zu seinem sadistischen Vergnügen inszeniert hat. Sehr gute Dialoge und vor allem ein doppeldeutiges, aber intelligentes Ende zeichnen dieses Drama aus. 

Von den Originalgeschichten ist „And if the Body were not the Soul” aus der Feder von A. C. Wise eine der besten Auseinandersetzungen mit einer Variation der “First Contact“ Geschichte, die emotional ergreifend und trotzdem ausgesprochen originell ist. Beginnend mit einer Dreier Beziehung – Xal, Ro und Audra – untersucht die Autorin die unterschiedlichen Positionen und vor allem die Idee, dass im Körper nicht nur ein Individuum lebt, sondern durch die „Aufnahme“ eines Außerirdischen ein Wesen entstanden ist, das sehr viel mehr als die einzelnen Teile ist. Die zwischenmenschliche Kommunikation wird ergänzt durch einen Hang zur Selbstzerstörung auf einer Erde, die sich inzwischen isoliert hat. Auch „Ice“ von Rich Larson ist eine faszinierend fremdartige Geschichte, wobei der Leser eine gewisse Toleranz aufbringen muss, um die einzelnen Facetten dieser auf den ersten Blick fast klassisch klischeehaften Geschichte der Besiedelung einer fremden Welt wirklich nachhaltig zu verstehen. Während Wise sehr tief in ihre Figuren eingedrungen ist, definiert Larson seine nicht weniger vielschichtigen Protagonisten nur von außen. Aus der Familie heraus, dem Miteinander statt dem Gegeneinander extrapoliert der Autor eine interessante, exotische Geschichte, die wie Wises Arbeit den Leser eher über das Herz denn den Plot nachhaltig anspricht.  Kola Heyward Rotimi übertreibt in der surrealistischen Geschichte „The Father“ ein wenig, in dem zwei sehr unterschiedliche Kults eingeführt werden, deren Ziele im Grunde nicht kompatibel sind. Der eine Kult will eine Göttin wieder beleben und sucht die Hilfe von Ingenieuren, um wahrscheinlich mittels genetischer Reproduktion das gewünschte Resultat zu erzielen, während ein anderer Kult den Status Quo erhalten möchte. Da der Protagonist nicht dem Auftrag gefolgt ist, sich abschließend zu töten, kann er wichtige Informationen von der einen Seite zur anderen mitbringen. Drogen und vielleicht auch virtuelle Realitäten spielen in dem nur oberflächlich geradlinig erzählten Plot eine wichtige Rolle. In dem Augenblick, in dem die Hauptfigur aber für sich eine Entscheidung trifft, bricht dessen Leben zusammen und die verschiedenen Bruchstücke spiegeln die falschen Entscheidungen der anderen Gruppen tragisch wieder.  Während „The Father“ – der Titel könnte doppelt ironisch sein – sich in großen Dimensionen bewegt, spricht Karen Heuler in „Egg Island“ eine interessante Zukunftsversion an. Das Heilen von Körpern mittels künstlicher Gliedmaßen aus dem Drei D Drucker, wobei viele der Menschen diese Prothesen innerlich als körperfremd ablehnen. Heuler geht sogar einen Schritt weiter. In ihrer Welt ist Plastik nicht nur ein wichtiger Bestandteil, sondern elementar mit vor allem vielen positiven Auswirkungen geworden.  Kritik könnte die Gruppe von Menschen hervorrufen, die aus dem im Meer schwimmenden Plastikmühl schließlich künstliche Inseln erschafft, auf denen zum Beispiele die Schildkröten Eier legen und sich ausruhen können. Der originelle Hintergrund der Geschichte ist, dass die Menschen sich nicht nur mit ihrer Umwelt auseinandersetzen müssen und möglichst wenig Abfall produzieren sollten, sondern vor allem das der vorhandene Abfall positiv eingesetzt wird. Viele Ideen werden aufgrund der Kürze des Textes nur angerissen und der waidwunde ein wenig depressive Charakter erscheint zu melancholisch pragmatisch gezeichnet, aber alleine die Ansätze machen die Geschichte lesenswert.

Jede Ausgabe von „Clarkesworld“ enthält inzwischen eine aus dem Chinesischen übersetzte Geschichte. „Summer at Grandma´s House“ von Hou Jingfang  ist eine lustige, nachdenklich stimmende Geschichte, die so exotisch und vertraut zugleich ist. Die Großmutter ist eine einzigartig gezeichnete Figur, die ihr Leben und vor allem auch ihre berufliche Einstellung – sie forscht an Mitteln gegen Krebs – eher rückwärts lebt und die gemachten Fehler positiv einsetzt, um am Ende aus dem Nichts heraus etwas Ganzes zu schaffen. Es ist die Konzeption der Geschichte mit einem Auge für die kleinen Details, die den Text so lesenswert machen. Lange Zeit hat man das Gefühl, als bestünde der Text nur aus exzentrischen Beobachtungen, bevor sich der Plot förmlich dreht und die einzelnen Versatzstücke erstaunlich nahtlos zusammenpassen. Liebevoll gezeichnete, skurrile Figuren und ein Schuss belehrende Altersweisheit  - auch nicht ganz ernst zu nehmen – runden den Text zufrieden stellend ab und geben zum wiederholten Male einen kleinen Einblick in die Bandbreite der chinesischen Phantastik.     

 Im sekundärliterarischen Bereich stehen sich mit „Sunless Worlds“ – einem sekundärliterarischen Artikel über die Wanderer zwischen den Sonnensystem mit der Implikation, diese auf dem Weg in die Tiefen des Alls als Rastplätze zu nutzen – sowie „Love Song for a Saturday Morning“ – Generationen von Amerikanern sind am Sonnabend Morgen mit den beliebten Zeichentrickserien aufgewachsen – zwei sehr unterschiedliche Themen gegenüber. Kurzweilig zu lesen ist es vor allem die Liebeserklärung an die ungesunde zuckersüße Ernährung am Sonnabend in Kombination mit den wahnwitzigen Zeichentrickfilmen, die Erinnerungen aufkommen lässt. Auch wenn diese Erinnerungen eher sekundär aus dem Betrachten entsprechender amerikanischer Filme stammen. Das Interview mit Cathrynne M. Valente dreht sich um ihren aus einer in „Clarkesworld“ veröffentlichten Kurzgeschichte entstandenen Roman „Radiance“, der sich fragmentarisch aus so vielen Themen zusammensetzt, dass alleine die von der Autorin angesprochenen Hintergrundthemen beginnend mit ihrer Kindheit als Tochter einer Schauspielerin und eines Regisseurs, die Liebe zu schwarzweiß  Filmen und schließlich der Versuch, die Informationsflut stilistisch experimentell in ein Buch zu verpacken, Lust auf das Werk macht.   Das Titelbild dieser Ausgabe erinnert ein wenig zu sehr an Johny Depp in „Charlie und die Schokoladenfabrik“. Die Kurzgeschichten sind wieder sehr gut ausgesucht. Vor allem die Nachdrucke laden den Leser ein, diese soliden Autoren der nicht negativ gemeint zweiten oder dritten Reihe mit einem umfangreichen Werk kennen zu lernen und in die Tiefe zu gehen. Die Themenbandbreite der Erstdrucke ist erstaunlich vielschichtig, wobei die dunklen Texte fehlen und zumindest die Herbstausgabe von „Clarkesworld“ überraschend optimistisch in die Zukunft schaut.     

www.clarkesworldmagazine.com

Erschienen Oktober 2015