Unter Korsaren Verschollen

Werner Legere

Der deutsche Schriftsteller Werner Legère ist am 28. Mai 1912 in Hohenstein-Ernstthal geboren worden. Am 14. Oktober 1998 in Glauchau ist er gestorben. Nach dem Besuch der Volksschule in Hohenstein-Ernstthal absolvierte Werner Legère ab 1924 die Realschule in Chemnitz, die er 1928 mit dem Reifezeugnis beendete. Im April 1928 begann er eine dreijährige kaufmännische Lehre bei der mechanischen Weberei Max Behrends in Hohenstein-Ernstthal. Seit 1934 arbeitete er als Stenotypist und Fremdsprachenkorrespondent für Französisch, Englisch, Spanisch und Portugiesisch. Bereits zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte er erste Aufsätze zu Karl May in regionalen Zeitungen. 1940 wurde er zum Kriegsdienst einberufen und geriet er im Verlauf des Kriegs in russische Gefangenschaft, aus der er erst 1947 in die damalige Ostzone zurückkehrte.
1948 begann er als freischaffender Künstler und dokumentierte die Hohenstein-Ernstthaler Stadtentwicklung fotografisch und verfasste Berichte unter anderem über sportliche Großereignisse. Mit der fiktiven Abenteuergeschichte erzielte er mit Ich war in Timbuktu 1953 einen Achtungserfolg. Der Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zu seinen weiteren Werken gehören der vorliegende Roman Unter Korsaren verschollen (1955), Schwester Florence (1965) und Die Verschwörung vom Rio Cayado (1956). Besonders das Buch Der Ruf von Castiglione (1960) machte ihn weit über Sachsen hinaus bekannt. Was seine Romane immer auszeichnet, ist neben einer kompakten abenteuerlichen Handlung ein Wissensschatz an Hintergrundinformationen. Nimmt der Leser alleine den vorliegenden Roman „Unter Korsaren verschollen“, erfährt er von den politischen Ränkespielen zwischen den algerischen Korsaren und den italienischen Kaufleuten, von dem politischen Einfluss des islamischen Anführer Dey, der unter der Prämisse, die Sklaverei zu beenden, sowohl von den Franzosen als auch den Engländer mit brutaler Gewalt gebrochen werden sollte. Dabei ging es sicherlich nicht nur um die in erster Linie schwarzen Menschen, die von den Arabern verschleppt worden sind, sondern um die Herrschaft über das Mittelmeer und deren wichtige Handelswege. Diese politischen Komponenten fügt Legere seinen Romanen zwar bei, im Tenor ist er aber seltsam unkritisch. Selbst aus der geschichtlichen Perspektive gesehen wollte der Autor nicht die kapitalistischen Antagonisten und ihre Aktionen loben. So ist es keine Überraschung, dass das eher kommunistisch eingestellte Italien inklusiv eines zwar adligen, aber eindeutig sozialistisch eingestellten Freiheitskämpfers die Hauptlast der europäischen Handlung trägt. Die Franzosen kommen als eher passiv moralische Unterstützer zu Ehren. Da ausgerechnet die Briten die Herrschaft des Dey schließlich mit ihrer gewaltigen Flotte brechen, werden sie eher als Beiwerk am Ende des Buches erwähnt.
Neben der Verdienstmedaille der DDR, die er 1988 erhielt, gewann er 1953 das Preisausschreiben für die „Schaffung neuer Kinder- und Jugendliteratur“. 1961 bekam er den Kunstpreis und 1963 den Kulturpreis der DDR. – Der Roman Die Nacht von Santa Rita, dessen Publikation in der DDR abgelehnt wurde, erschien 1997 im Karl-May-Verlag. Neuauflagen seiner Bücher erfolgten im Chemnitzer Verlag. Derzeit existieren noch drei unveröffentlichte Manuskripte: Die Cocusnusschale, der Sklavenroman Schwarze Esther und Der Strafgefangene von Paramatta.
1992 enthüllte Legère die Bronzebüste Karl Mays in Hohenstein-Ernstthal.
1993 wurde er der erste Ehrenbürger der Stadt Hohenstein-Ernstthal nach der deutschen Wiedervereinigung. Die Gesamtauflage seiner Werke betrug zu dieser Zeit rund 1,3 Millionen Exemplare mit nicht weniger als 77 Buchauflagen. Seine Bücher wurden in insgesamt sieben Sprachen übersetzt und erschienen als Lizenzausgaben vor 1990 auch außerhalb der DDR in Italien und Österreich.
Sein Nachlass befindet sich im Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal. In der Begegnungsstätte gibt es einen Ausstellungsraum mit seinem Arbeitszimmer. Dabei zeigt sich im vorliegenden Roman eine erstaunliche Nähe nicht zum Volksdichter aus Sachsen, sondern zum französischen Abenteuerschriftsteller Alexandre Dumas. Es beginnt mit einem doppelten Verrat. Ein reicher italienischer Bankier ist vor vielen Jahren den algerischen Korsaren gegenüber die Verpflichtung eingegangen, ihnen die Daten von auslaufenden Schiffen zu melden. Im Gegenzug haben sie ihm die Mittel gegeben, zu einem der einflussreichsten Bänker der Staat aufzusteigen. Dank seines Reichtums hat er diese Verpflichtung eher sporadisch ausgeübt. Jetzt kommt ein geheimnisvoller, mächtiger Fremder, um ihn zu mahnen. Mit einer eiskalten Berechnung versucht der Banker aus dem Plan doppelten Gewinn zu schlagen. Das nächste Schiff, das er verrät, gehört einem ehemaligen Freund und jetzigen Konkurrenten. Auf dem Schiff reist dessen verheiratete Sohn und der Enkel mit. Das Schiff wird planmäßig überfallen und zumindest aufgrund seiner Informationen alle Menschen getötet oder in die Sklaverei verschleppt. Mehr durch einen Zufall überlebt der Sohn verletzt, der Enkel und die Mutter werden tatsächlich entführt und ihre Spuren verschwinden in der Unendlichkeit der Wüste. Da der Bankier den gesamten Familienclan ausrotten möchte, beauftragt er den „Herr der Berge“ – einen bekannten Banditen – auch das Familienoberhaupt zu töten. Was er nicht ahnen kann, ist eine lange Zeit brachliegende Freundschaft zwischen den beiden Männern. Diese nehmen ihre freundschaftliche Beziehung nicht nur wieder auf, sie erfahren, dass der Bankier die Schiffsrouten verraten hat und planen dessen Untergang. Insbesondere die erste Hälfte des Buches wird nicht von den wilden Korsaren beherrscht, sondern von politischen Ränkespielen allererster Kategorie. Der Abenteuercharakter geht bei dieser Vorgehensweise verloren und erinnert mehr an einen sekundärliterarischen Text mit Spielszenen. Das liegt auch an Werner Legeres Schwäche, den einzelnen Protagonisten nuancierte Charakterzüge zu geben. Insbesondere der rücksichtslose, egomanische Bankier ist eine zweischneidige Schöpfung. Viele innere Monologe bestimmen sein Wesen, Legere bleibt hier an der Oberfläche und beschreibt einen klassisch überzeichneten Kapitalisten. Nur so lange er an der Börse und seine Geschäftspartner betrügen kann, hat er Erfolg. Als er ehrlich spielen soll und muss, zerbricht sein kleines Imperium. Auch wenn diese unübersehbaren Hinweise auf die Bösartigkeit des Kapitalismus eher subtil eingestreut worden sind, lassen sie sich nicht übersehen. Im Gegenzug ist der „Herr der Berge“ zwar von adliger Abstammung und nutzt dieses Privileg soweit notwendig, ist aber vom sozialistischen Volksgedankengut beseelt und sieht sich als modernen Robin Hood gegen die korrupte italienische Adligkeit. Diese Figur soll auf einer historischen Persönlichkeit basieren. Obwohl sie zu Beginn des Handlungsbogen nur eine Randerscheinung sein soll, wird zum Katalysator und vor allem Begleiter der folgenden Ereignisse. Sie bietet sich für den Leser auch am einfachsten als charismatische Identifikationsfigur an. Intelligent, charmant, sympathisch, entschlossen, aufgeschlossen. Dagegen verblassen trotz aller gegenteiligen Bemühungen die anderen Protagonisten. Nur über passiv im Mittelpunkt des Komplotts stehende Familie wird in einer gut geschriebenen Szene zu Beginn des Handlungsbogens näher und emotional überzeugend beschrieben. Dabei nutzt Legere die Vorzüge der direkten Dialoge, um dem Leser aus einer anderen Perspektive weitere Informationen zu den nicht einfachen Zusammenhängen zwischen den beiden verfeindeten Familien zu geben. Die relevanten Informationen werden sehr unaufdringlich präsentiert. Kaum hat der Leser oder handlungstechnisch der Kapitän des Schiffes die Informationen verarbeitet, blendet Legere zu einer rasanten, dramatischen Actionsequenz über. Dieses Schema wird der Autor in der vielschichtigen Handlung beibehalten. Immer wieder wechseln sich sehr ruhige Passagen mit erklärendem Charakter mit geradlinigen, prägnanten aber im Vergleich zu Karl Mays Epen oder eben Alexandre Dumas im Verlauf der Handlung immer schneller werdenden Romanen sehr kompakten Sequenzen ab. Nicht selten distanziert sich Legere von diesen Szenen, in dem er aus der direkten Handlungsebene auf die Indirekte – durch Gerüchte oder Zeitungsmeldungen - überschwenkt. Das nimmt dem Roman vor allem in der letzten Hälfte sehr viel von seiner inneren Spannung und Komplexität. Insbesondere der Angriff der Engländer wird nur noch als historische Randnotiz und nicht mehr als wichtiger Bestandteil des Romans erwähnt.

Einen starken Kontrast zu der europäischen Verschwörungshandlung bildet das harte Leben der Sklaven in Afrika. Das Werner Legere sich im Grunde in erster Linie um die europäischen Opfer kümmert und die Farbigen nur als Randnotizen mitschleppt, kann man ihm nicht einmal verdenken. Was die brutale Bestrafung angeht, spielt die Hautfarbe keine Rolle. Diese Szenen sind eindringlich und packend, atmosphärisch dicht und vor allem überzeugend recherchiert ohne belehrend zu wirken geschrieben worden. Nicht die überzogene Naher Osten Romantik, sondern eine gute Mischung aus Realismus und handlungsbedingter Fiktion. Die türkischen und algerischen Herrscher werden zwar etwas zu überzogen einseitig beschrieben und als verschlagene Schurken charakterisiert, aber einen Gegenpol zu der sehr ruhigen, fast lethargischen Handlung musste Legere haben. Der Aufstieg Omars – der Leser ahnt sehr schnell, um wen es sich handelt – vom einfachen Sklaven zum Kapitän eines Korsarenschiffes verläuft zu geradlinig und zu einfach. Fast überzogen konzentriert sich Legere auf die orientalischen Hintergrund und vernachlässigt die Handlung. Da sich auch das Geschehen in Italien nach dem wirklich beeindruckenden Anfang ein wenig beruhigt hat, erfordert der Mittelteil sehr viel Geduld vom Leser. Die Suche nach inzwischen genesenen Vaters nach seinem von den Korsaren verschleppten Sohn ermöglicht es Legere, den Orient aus der Perspektive eines Fremden zu beschreiben. Dabei negiert er die kulturellen Unterschiede nicht wie Karl May mit einem Überhelden, sondern zeigt seine Figuren als engagiert, aber gegenüber der fremden Welt im Grunde hilflos. Nur Omar als Herr über beiden Kulturen – in zivilisierten Europa aufgewachsen und aus der Not die afrikanische barbarischere Kultur annehmend - ist genau wie der „Herr der Berge“ – von adliger Herkunft und doch mit dem einfachen Volk verbunden - in der Lage, sein Schicksal mit Intelligenz, Verschlagenheit und Manipulation selbst zu bestimmen.
Werner Legere ist allerdings kein geborener Erzähler wie zum Beispiel Karl May. Er orientiert sich eher an den Reiseberichten Friedrich Gerstäckers. Nicht selten versucht er Spannung mit der Aneinanderreihung von unvollständigen, sehr kurzen Sätzen zu erzeugen. Damit drückt er nicht nur gefährliche Situationen, sondern nicht selten den inneren Zwiespalt in den einzelnen Charakteren aus. Anfänglich ein interessantes Stillmittel ermüdet dieses Vorgehen rasch und hinterlässt beim Leser teilweise den Eindruck von Einfallslosigkeit. Auf der anderen Seite fehlt dem Buch allerdings auch das may´sche christliche Sendungsbewusstsein und lässt sich deswegen sehr viel unterhaltsamer goutieren.
Als Roman/ historischer Bericht betrachtet liest sich „Unter Korsaren verschollen“ nach einer gewissen, dem Autoren auch zugestandenen Einführungszeit relativ flott. Die historischen Informationen beleuchten eine eher unbekannte Episode der wechselhaften Geschichte des Mittelmeerraumes. Mit dem Motiv der Sklavenbefreiung – wenn auch eher aufgrund des Drangs der europäischen Nationen, nach dem unermesslichen Reichtum des Orients greifen zu wollen – hat Legere dem Buch einen soliden roten Faden gegeben. Die verschiedenen geschickt eingesetzten Handlungsfäden verbinden sich schließlich zu einer spannenden, lehrreichen Geschichte. Die stilistischen Schwächen werden durch reichhaltige, sehr sachlich vorgetragene historische Informationen negiert. So bleibt ein Buch, das nicht nur das Schicksal des „Unter Korsaren verschollen“ Jungen beschreibt, sondern sich über weite Strecken der ersten Hälfte mit dem Dschungelkampf unter Genuas Kaufleuten auseinandersetzt. Werner Legere macht dem Leser klar, dass insbesondere in Genua die Börse schon damals ein Haifischbecken gewesen ist, in dem nur die willensstarken und wahrscheinlich gegen die Geschichte die ehrlichen Kaufleute überleben können. In diesem Punkt biegt sich der Autor seinen Plot ein wenig zu sehr hin. Ein weiteres Element – und hier bewegt sich Legere eindeutig in Dumas Bereich – ist der Begriff der Freundschaft. Aus der Freundschaft zweier Jungen wird durch eine Kleinigkeit eine jahrelange Feindschaft, die schließlich auch die Familien belastet. Eine andere Freundschaft ist erkaltet und wird im richtigen Moment von beiden Seiten wieder mit Leben erfüllt. So unwahrscheinlich auch die erste Idee sowie die zweite Reaktion sind, im Kontext dieses ganz bewusst komplex angelegten Plots funktioniert sie. Aus dieser gegensätzlichen Konstellation heraus entwickelt Werner Legere im Grunde die gesamte Geschichte. „Unter Korsaren verschollen“ ist sicherlich kein typisches Beispiel für die Abenteuerliteratur der fünfziger Jahre. Zu schnell und zu gründlich entfernt er sich von den Pulpgedanken der Groschenliteratur – selbst in der ehemaligen DDR gab es diese leichten unpolitischen Unterhaltungsromane – um Fakt und Fiktion zu einem interessant zu lesenden Abenteuerroman mit deutlich erkennbaren Schwächen, aber auch vielen stärken zu verbinden.

Werner Legere: "Unter Korsaren Verschollen"
Roman, Hardcover, 424 Seiten
Ustad- Verlag 1997

ISBN 3-7802-1076-2

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