Michaelmas

Michaelmas, Titelbild, Rezension
Algis Budrys

Algis Budrys 1977 veröffentlichter Roman „Michaelmas“ basiert wie im Grunde alle seiner längeren Arbeiten auf kurze Zeit vorher veröffentlichten Kurzgeschichten. Nur die Grundidee extrapolierend erschien diese Arbeit ein Jahr vorher in „The Magazine of Fantasy and Science Fiction“.

 In seinem Gesamtwerk nimmt „Michaelmas“ eine Sonderstellung ein. Eine wichtige Frage ist aus dem verfilmten „Who“ übertragen worden. Wie kann man erkennen, ob der Mensch vor einem wirklich die Person ist, die angeblich bei einem tragischen Unfall in „Who“ schwerstverletzt oder wie im vorliegenden Buch durch den Absturz seiner Raketenkapsel für die Öffentlichkeit ums Leben gekommen ist?  Die Frage nach der Identität eines Menschen zieht sich nicht nur in Person des Astronauten Norwood durch den vorliegenden Roman. Norwood ist für die im Grunde einen überflüssigen MacGuffin darstellende Expedition zu den äußeren Planeten vorgesehen gewesen. Alle Nationen der Erde haben sich an dem Vorhaben beteiligt. Mit Norwoods „Tod“ müsste sein russischer Stellvertreter in der Kommandostruktur nach oben rutschen, was wiederum zu politischen Schwierigkeiten führt. Mit seinem plötzlichen Auftauchen – angeblich ist er in der Nähe einer Schweizer Spezialklinik abgestürzt und wurde im Geheimen vom zweifachen Nobelpreisträger und Arzt wieder hergestellt – und der Gefahr, dass er wieder die Expedition leiten können, kommt es in dieser im Jahr 2000 spielenden Welt zu den politisch militärischen Drohgebärden, die  lange Zeit als dunkler Schatten der Vergangenheit galten.

 Der schwächste Aspekt des Romans ist eine zweite, hinter den Kulissen agierende Kraft, welche die Expedition in die Tiefen des Alls im Grunde verhindern möchte. Budrys hat in „Projekt Luna“ mit dem außerirdischen Artefakt voller Todesfallen auf der Rückseite des Mondes eine perfekte Puzzleaufgabe für die Menschheit erschaffen. In „Michaelmas“ tritt er einen Schritt zurück und fügt diese futuristische Komponente klischeehaft, auf der einen Seite auch bedingt Arthur C. Clarke folgend als „Deus Ex Machina“ Lösung in seinen Roman ein. Ohne diese Variation würde das Buch deutlich zeitloser erscheinen und vor allem von Beginn an paranoider. Wenige Jahre später hat sich vor allem neben „Nedwork“ auch der unterschätzte Sean Connery Film „Wrong is right“ mit dem über weite Strecken beherrschenden Thema der Macht der Medien auseinandergesetzt und faszinierende Antworten gegeben. In einer gänzlich anderen Hinsicht nimmt Algis Budrys mit seinem Buch aber ein fast unbekanntes Meisterwerk des politischen Paranoiakinos vorweg: „Der Philadelphia Clan“.

 Im Mittelpunkt seines Buches steht Laurent Michaelmas. In der Theorie einer der mächtigsten, wenn nicht der mächtigste Mann der Erde. Budrys definiert seine Rolle ambivalent. Michaelmas ist kein Talkmaster, wie in Norman Spinrad sowohl in „Bilder um 11“ als auch „Champion Jack Barron“ entwickeln sollte. Bescheiden nennt er sich Fernsehkommentator, der mit seinen versiert geschnittenen, an die Fernsehsender zu Höchstpreisen verkauften Kommentaren, Dokumentaren oder einfachen Fernsehbeiträgen die Meinung der Massen manipulieren kann. Es ist erstaunlich, dass Budrys als Amerikaner nicht den letzten logischen Schritt für seinen Charakter vollzogen hat. Als Persönlichkeit in einem der führenden amerikanischen oder globalen Sender wäre Michaelmas noch allgegenwärtiger und seine Kommentare vielleicht ultimativer. Michaelmas ist nicht unfehlbar. Ein Beitrag über einen verstorbenen Politiker wird von keinem der großen Sender zu seiner eigenen Überraschung gekauft. Nur in dessen Heimatstadt würde man ihn vielleicht ausstrahlen, was Michaelmas unbedingt verhindern möchte.

 Natürlich weiß Michaelmas mit der Öffentlichkeit zu spielen. Mit kleinen technischen Tricks – in der heutigen Gegenwart durchaus umsetzbar, in den siebziger Jahren noch zynische Utopie- schaltet er unliebsame, vielleicht auch naive Konkurrenten aus. Die Idee der Liveschaltung, der allgegenwärtigen Kamera und der subjektiven Überwachung ist im vorliegenden Roman noch nicht geboren worden. Beiträge müssen noch aufgezeichnet und bearbeitet werden, wie ein geschicktes Manöver eines von Michaelmas Konkurrenten zeigt, der eine wichtige wie kritische Frage zwar in seiner Kamera überspielen, die Daten vorher aber drahtlos in die Sendezentrale überspielen lässt.

 Algis Budrys ist kein Autor, der Heldenepen schreiben kann oder will. Er ist ein sachlicher, fast distanzierter Ideenautor, dessen Figurenentwicklung manchmal ein wenig zu pragmatisch, zu rudimentär erscheint. Hinzu kommt ein tempotechnisch nicht variabler Schreibstil und anschließend noch ein Hang, Hintergründe zu ausführlich zu erläutern. In einigen Büchern funktioniert diese Vorgehensweise, aber Michaelmas will beginnend mit seinem Protagonisten aus diesem Rahmen ausbrechen. Es wirkt unglaubwürdig, dass Michaelmas aus einem kleinen Gerät eine künstliche Intelligenz entwickelt hat, die sich in alle wichtigen Informationskanäle hineingehackt hat, um alle Menschen zu überwachen. Die Idee ist vor allem für einen Roman der siebziger Jahre faszinierend, wobei die Bedrohung durch intelligente Roboter schon in „Des Teufels Saat“ – vor allem dem von Dean R. Koontz geschriebenen Thriller und weniger der allegorischen Verfilmung – schon weit getrieben worden ist. Michaelmas und sein Helfer Domino – so hat er seine künstliche Intelligenz genannt – bilden eine fast krankhafte Synthese, in dem sich das Gespür eines langjährigen Medienmannes mit der eiskalten wie bestimmenden Logik einer Maschine verbinden. Natürlich kann Michaelmas mit einem Beitrag, mit aufgefangenen Informationen ganze Karrieren vernichten und Menschen in den Abgrund treiben. Um diese Macht zu etablieren, müsste sie in einem entsprechend frühen Moment des Romans entweder positiv oder negativ ausgenutzt werden. Auf diese Demonstration der Stärke verzichtet Budrys und begnügt sich an Hand des Falles Norwood damit, eine umfangreiche wie stellenweise unglaubwürdige Verschwörung zu etablieren, die Michaelmas aus Motiven hinterfragen und eliminieren muss, deren Bedeutung wieder in einem engeren Zusammenhang mit dem schwächeren Ende steht.

Modern wirkt das Buch durch die Tatsache, dass die damalige Technik nicht nur glaubwürdig extrapoliert worden ist, sondern die Idee einer nicht mehr vorhandenen Privatsphäre, eines allgegenwärtigen künstlichen Auges bis hin zu einer virtuellen Medienwelt ausgesprochen weitsichtig erscheinen und trotzdem auf einem sehr realistischen Boden aufgebaut worden sind.

 Hinzu kommen die populistischen, egoistischen und eitlen Politiker, die sich mit jeder Feder schmücken, die ihnen der Wind des Zufalls entgegenweht. Die enge Verbindung zwischen Politik und Kommerz wirkt genauso zeitlos. Immer wieder fügt Budrys indirekt Kritik auch an der aktuellen – für die siebziger Jahre – Politik der USA in seine laufende Handlung ein, die aus der heutigen Sicht des 21. Jahrhunderts kindlich naiv und doch zynisch extrapoliert erscheint. Budrys ist kein Pessimist. Er ist nicht paranoid wie Philip K. Dick oder vor allem auch Barry Malzberg, der aus dieser Grundidee einen fast unerträglich depressiven Roman erschaffen hätte, der sich förmlich in das Gedächtnis seiner Leser eingebrannt hätte.

 Budrys hat irgendwo unnötig Angst, den letzten gesellschaftskritischen und dadurch auch modernen Schritt zu gehen. Er impliziert, dass Michaelmas mehr als nur ein Kommentator der gegenwärtigen politischen Ereignisse ist. Mit seinen aktiven Berichterstattern manipuliert er nicht nur die Öffentlichkeit, Dominik verschafft ihm unbemerkt wirklich alle Informationen und rundet so den entsprechenden Kreis ab. Budrys spielt mit dem Gedanken, dass Michaelmas nicht nur ein Fernsehkommentator ist, er ist zu einer Art der Medienwelt geworden, wobei dieser Begriff nicht im übertragenen Sinne wie ein Superstar gesehen werden muss, sondern vor allem den Schöpfungsgedanken, das Sendungsbewusstsein eines Gutmenschen umfasst, der einen besonderen Draht zu der Mission zu den äußeren Planeten des Sonnensystems hat. Im Umkehrschluss wirkt diese gegenläufige „Macht“ genauso unterentwickelt wie Michaelmas über die Erschaffung von Dominik – er spielt Frankenstein und brüskiert Gott – hinausgehender Hintergrund.

 Zu viele Flanken bleiben auf dieser wichtigen „zwischenmenschlichen“ Ebene offen und vor allem traut sich Budrys nicht, seinen Protagonisten wirklich über seine aktiven Handlungen außerhalb der Ermittlungen im Fall Norwood und dem Mord an einem seiner Kollegen zu positionieren. Dabei hat Michaelmas mit seinen Ermittlungen im Fall Norwood sehr viel zu verlieren. Seine ganze Machtbasis, die Budrys entgegen eines klassischen Handlungsverlaufs an keiner Stelle wirklich erschüttert. Wie diese futuristische und doch auch historische Welt scheint der Plot sich strecken zu wollen, was auf der anderen Seite vom Autoren unnötig und teilweise frustrierend verhindert wird. In „Michaelmas“ stecken vor allem in der ersten Hälfte des Romans so viele Ideen und die Krimigrundlage wirkt so überzeugend, so perfekt inszeniert, dass die zuckersüße Auflösung fast eine Enttäuschung ist. Der Weg zur „Kammer“ – Leser des Buches werden wissen, worum es hier geht – ist interessanter als das Finale, in dem Budrys wie auch bei seinem zwanzig Jahre vorher veröffentlichten Roman „Projekt Luna“ Antworten zu geben sucht, welche der Leser gar nicht haben möchte.

 „Michaelmas“ ist angesichts der heute allgegenwärtigen technischen Möglichkeiten und der Warnung vor der Macht der Medien – Michaelmas ist ja der Held der Geschichte und darf trotz grenzwertiger Mittel bestimmte rote Linien nicht überschreiten – ein in vielen Punkten prophetischer, überraschend gut gealterter Roman, der im finalen Abschnitt dann allerdings nicht den entscheidenden Schritt weiterdenken und seine Leser zum Nachdenken provozieren will.  

 

  • Format: Kindle Edition
  • Dateigröße: 1044 KB
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe: 223 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (11. Juli 2016)
  • Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
  • Sprache: Deutsch
  • ASIN: B01H6ZM3ZG