Artemis

Artemis, Weir, Titelbild, Rezension
Andrew Weir

Andrew Weirs "Artemis" versucht die Quadratur des Kreises. Sein erstes inzwischen auch verfilmtes Buch schrieb Weir in der Anonymität des Netzes. in Ruhe konnte er recherchieren und hat im Grunde eine uralte Idee mit "Robinson Crusoe auf dem Mars" aufgrund des wissenschaftlich sorgfältig recherchierten Hintergrunds und des intelligenten Humors zu neuem Leben erweckt. Vor allem haben viele Science Fiction Autoren den Planeten Mars gemieden, so dass er einen altbekannten Hintergrund mit dem Stand der Forscher fast alleine nutzen konnte.

 "Artemis" spielt auf dem Mond. Grundsätzlich nicht einmal eine schlechte Idee, gäbe es da nicht die qualitativ herausragenden Romane Ian McDonalds. In den ersten beiden Büchern seiner "Luna" Serie hat der Brite nicht nur das Leben auf dem Mond hervorragend beschrieben, er hat im Grunde Soaps wie "Dallas" oder "Denver Clan" mit den fünf Drachen bzw. Familien in die Zukunft verlegt. Herausgekommen ist eine atemberaubende, spannende und vielschichtige Serie mit skurrilen Charakteren. 

 "Artemis" muss sich mit dieser Serie vergleichen lassen und schneidet vor allem auch über die Charakterisierung der einzelnen Protagonisten eher durchschnittlich bis enttäuschend ab. Sowohl der Marsianer Mark wie auch die neue Protagonistin Jazz - weiblich, 26 Jahre alt, auf dem Mond geboren, saudi arabischer Herkunft - machen immer wieder Witze teilweise auf eigene Kosten. Egal wie sehr sie in Lebensgefahr sind. Andrew Weir unterbricht manchmal den Handlungsfaden, um direkt mit dem Leser zu "sprechen" und dadurch die chronologischen Grenzen ein wenig aufzulösen. Nicht selten hat man das unbestimmte Gefühl, als wenn die Struktur des Buches und die fortlaufenden sarkastischen Bemerkungen wichtiger sind als die Handlung. Ab und zu kann ein Protagonist fast in James Bond Manier einen Witz reißen, aber es erscheint unglaubwürdig, wenn das erstens immer wieder vorkommt oder manchmal im Angesichts des Todes noch nach der richtigen Musik gesucht wird. Natürlich lässt sich ein Roman in einem derartig lockeren Stil sehr gut lesen, aber noch stärker als in dem plottechnisch mehr stringenten "Der Marsianer" versucht Weir unnötig an einigen Stellen den Handlungsbogen aufzulockern als konsequenter und tempotechnisch packender fortzuführen.

Jazz und Mark erscheinen in einigen Punkten zu ähnlich. Auch wenn es sich um erwachsene Menschen handelt, agieren sie auf der emotionalen Ebene eher wie Kinder. Dazu der Joke mit den wiederverwendbaren Kondomen in "Artemis". Sie haben beide eine große Klappe, der sie sich immer wieder im Verlaufe ihrer Abenteuer auch stellen müssen. Im Laufe dieser beiden "Reisen" sollten sie reifer werden und ihre Handlungen mehr reflektieren zu lernen, wobei Mark ausschließlich reagieren, Jazz am Rande der Katastrophe ausschließlich agieren muss.

 Auch wenn ihre Jagd nach dem Geld - der Grund wird erst am Ende sichtbar und soll ihren guten Charakter unterstreichen - sich wie ein roter Faden durch "Artemis" zieht, darf einiges nicht vergessen werden. Anfänglich werden ihre Handlungen als Teenager - Sex und Drogen - beschrieben, wobei Andrew Weit als zusätzliche Charakterisierung einen E Mail Briefwechsel mit einem jungen Mann auf der Erde eingeflochten hat. In diesen Mails erscheint phasenweise eine etwas andere Jazz Persönlichkeit.  Zusätzlich begeht sie - wie sich später herausstellt zu recht - einen kriminellen Akt, der das Leben aller Menschen auf dem Mond unter den Kuppeln gefährdet. Dabei spielt es keine Rolle, dass sie den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben sucht. Als sie später erwischt worden ist, wehrt sie sich auf eine eher erpresserische Art und Weise gegen ihre Verbannung. Nach dem Motto, meine potentiellen Nachfolger unter den Schmugglern seltener Waren sind moralisch nicht so einwandfrei wie ich. Eine interessante Argumentation, welcher Andrew Weir als neutraler Erzähler nichts hinzufügen möchte und deren Ambivalenz er fast provokant stehen lässt. 

 Am Ende des Buches versucht sie das von ihr mit initiierte Unheil zu heilen, in dem sie zu drastischen Maßnahmen greift, den ursprünglichen Plan umsetzt und damit "Artemis" in mehrfacher Hinsicht einer goldenen Zukunft zuführt. Andrew Weir ignoriert dabei alle Klippen und fügt die einzelnen Komponenten beginnend mit einem perfekten MacGuffin und endend mit noch mehr ebenfalls lebensgefährlicher Sabotage im Eilverfahren zusammen, um den Plot zu beenden.

 In "Der Marsianer" hat er die finale Rettung sehr viel besser trotz der Risiken vorbereitet. Für Mark gab es keine Alternative. Jazz dagegen versucht mit ihrem immer größer werdenden Freundeskreis wider Willen - teilweise hat der Leser das Gefühl, als wenn die alten Kriegsfilme mit einer zusammengewürfelten Truppe von Freiwilligen wieder lebendig werden - aus einem Sabotageakt das Beste zu machen.  Vor allem die entsprechenden Hintergründe wirken bös zusammengewürfelt und die meiste Argumentation erschlägt Jazz mit ihrem Hang zu improvisierten und hektischen Aktionen, alle unter der Prämisse "Ich habe einen Plan". Niveautechnisch erinnert das an die beliebte Fernsehserie "Das A- Team", in der am Ende im Kampf gegen die Bösen alles irgendwie und irgendwo positiv zusammengefallen ist.      

 Wie Ian McDonald hat sich Andrew Weit bemüht, eine vielschichtige Mondgesellschaft zu beschreiben. Beide Autoren zeichnen ein ausgesprochen gegenwärtiges Bild einer Industrie Nation der zweiten oder dritten Welt. Es gibt die reichen Exzentriker, die in Luxus auf dem Mond leben. Es gibt die Nachkommen der armen Familien, die sich mit Handwerk oder Transportdienstleistungen mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen. Tourismus ist vor allem bei Andrew Weir wichtig. So ist die Lizenz, Touristen unter anderem zur Landestelle von Apollo 11 zu führen, eine Lizenz zum Mottendrucken. Motten ist die inoffizielle Währung unter den Kuppeln der Mond Siedlung, die als Lunabewohner dank ihrer allgegenwärtigen Handhelds nutzen.

 Sowohl bei McDonald als auch Weir unterscheiden sich die Strukturen nur bedingt von der zweiten oder teilweise an der Schwelle zur Industrienation stehenden dritten Welt. So lebt Jazz Vater als Schweißer mit seiner eigenen kleinen Firma auf dem Mond. Jazz wie auch er gelten als ausgesprochen ehrlich. Obwohl Jazz eine Schmugglerin und schließlich eine Saboteurin ist, nimmt ein Polizist ihr Schweigen nach der Überweisung eines kleinen Beitrages von ihm auf ihr Konto als Beweis, dass sie lügt. Geschäft ist Ehrensache.  Anstatt aber den Plot mit der allerdings schnell nervigen Jazz ruhig weiter zu entwickeln, sucht Andrew Weir im Gegensatz zu persönlichen Katastrophe eines Menschen während einer gefährlichen Mission - er wird ja auf dem Mars vergessen - möglichst eine aus Sicht der auf dem Mond lebenden Menschen globale Katastrophe, an deren Ende eine buchstäblich Rettung in letzter Sekunde steht.

 Der Plot wird immer übertriebener und dank der eindimensionalen, eher pragmatischen Charaktere kann der Autor nicht gegensteuern. So ärgert sich Jazz, dass ihr früherer Freund sie verlassen hat, weil er erkannte, dass er in Wirklichkeit schwul ist und jetzt mit einem Bekannten der Protagonistin lieber lebt. Aus Dummheit hat sie vor Jahren ihrem Vater schweren Schaden zugefügt und versucht ohne Kommunikation mit ihm den Schaden wieder gut zu machen. Ein exzentrischer Erfinder versucht zu helfen, dazu kommen der Polizist mit dem Herzen aus Gold und die Gouverneurin, die irgendwie auch versucht, zwischen dem Überleben der kleinen lunaren Gesellschaft und damit Einfluss eines Gangstersyndikats mit Verbindungen in die lebenswichtigen Bereiche hin und her zu jonglieren, ohne eine Seite entweder zu gefährden oder das leider bis auf die Killer gesichtslose Syndikat zu verärgern. Dabei impliziert Weir kontinuierlich einige Stimmungen und Richtungen, die der Autor leider nicht nur einmal, sondern mehrmals gleich wieder unterminiert. Natürlich desorientiert er mit dieser Vorgehensweise Protagonisten und Leser, aber er nutzt diese stumpfe Instrument des Schriftstellers zu oft nicht nur in diesem Buch, sondern auch in der zweiten Hälfte von "Der Marsianer".     

 Am Ende wirkt "Artemis" eher wie der Debütromans Andrew Weirs. Der kindische Humor, die Faszination mit Nebenkriegsschauplätzen wie dem Schweißen im All in isolierten Räumen und die verschiedenen an eine sanfte Screwball Komödie erinnernden Verwechselungen und Irrungen/ Wirrungen des Lebens werden durch ein ambivalentes Tempo zusätzlich belastet. Natürlich passiert in dem Buch viel, aber wenn man objektiv die Handlung zusammenfasst, wirkt zu vieles eher zufällig eingestreut als wirklich nachhaltig entwickelt. Aber mit der nervigen, unrealistischen und stark konstruierten Jazz hat Andrew Weir im Gegensatz zu dem Galgenhumor Mark eine Figur erschaffen, welche den Leser mehr und mehr abschreckt. Am Ende wünscht man sich, dass sie als Heldin gegen alle Wahrscheinlichkeiten nicht gelobt, sondern bestraft wird.  

 

 

  • Taschenbuch: 432 pages
  • Publisher: Heyne Verlag (5 Mar 2018)
  • Language: Deutsch
  • ISBN-10: 345327167X
  • ISBN-13: 978-3453271678
  • Original Title: Artemis