Aus finstrem Traum

Sascha Dinse

Insgesamt zehn Geschichten präsentiert die erste Storysammlung des in Berlin lebenden Autoren, wobei der Titel „Aus finsterem Traum“ als allgemeines Schlagwort für viele der Texte dienen könnte. Zwei Erstveröffentlichungen stehen zum Beispiel Geschichten gegenüber, die ebenfalls in „Außer der Reihe“ herausgegeben von der Lektorin Marianne Labisch publiziert worden sind.

Bei „Alioth“ wäre es allerdings sinnvoll gewesen, die „Inspiration“ – so der Titel der Anthologie und gleichzeitig die Erklärung für eine Kombination aus Graphiken Andrea Schwietzkes und davon inspirierten Kurzgeschichten – zumindest in schwarzweiß begleitend abzudrucken. Auch wenn der zweite „p. machinery“ Nachdruck „ Ex infirnis“ aus der Anthologie „Bilder einer Ausstellung“ stammt, lagen die Wurzeln hier eher im musikalischen Bereich.

 In "Alioth" auf zwei Ebenen versucht ein Familienvater das Glück mit seiner Frau und seiner Tochter zu verteidigen. Dabei ist von Beginn auch nicht wirklich klar, was die Realität und was vielleicht Traum/ Fiktion auf dem Weg in eine besondere Mission ist.  Natürlich ist der Vater bereit, einiges zu opfern, aber betrifft es ihn wirklich? Die Implikation einer Vision statt eines vollständigen zweiten Universums relativiert auch einige Handlungen der Protagonisten. Wie bei fast allen anderen reinen Science Fiction Geschichten dieser Anthologie werden bekannte Versatzstücke nicht nur extrapoliert, sondern verfremdet, so dass etwas gänzlich Neues entsteht.  

 Die eigentliche Auftaktgeschichte „23b“ zeigt die unverkennbaren Stärken, aber auch ein wenig die noch vorhandenen Schwächen Sascha Dinses. Ein klassisches Auftakt einem Schriftsteller in seiner neuen Wohnung und dem „Zuzug“ eine attraktiven Musikerin als Nachbarin. Immer wieder flechtet Sascha Dinse einige neue Ideen ein. So scheint der Autor für jeden neuen Roman eine neue Wohnung als Inspiration zu beziehen. An einer anderen Stelle wird das Klischee der attraktiven Agentin bemüht, die ihren Reichtum zur Schau stellt. Der Aufbruch der geradlinigen Handlung durch ein Verhör in Handschellen ist der erste Fingerzeig, das etwas an dieser Realität nicht stimmen kann. Anschließend löst der Autor diese Handlungsebene schockierend und provozierend auf, ohne das der Leser am Ende bestimmen kann, ob es sich von Beginn an um die Vision eines Wahnsinnigen gehandelt hat oder tatsächlich die Liebesgeschichte Katalysator der folgenden Ereignisse ist. Interpretationen sind in beide Richtungen möglich, aber ab der Mitte des Textes wird der Leser nicht mehr so überrascht oder provoziert.    

 In die Kategorie „Wahnsinn“ fallen auch weitere Geschichte. „Isabelle“  könnte als Variation des „House of Wax“ Themas durchgehen. Auch wenn die eigentliche Pointe nicht sonderlich originell erscheint und im direkten Vergleich mit „23b“ der Rückgriff auf Schemata bei Sascha Dinse angeprangert werden könnte, verfügt die Story auch über eine morbide und perverse Faszination. Vielleicht hätte sogar eine Novelle den exzentrischen Charakteren besser getan. Der Künstler mit seiner neuen Muse „Isabelle“ scheinen sich gegenseitig bis zum dunklen Höhepunkt einer das Publikum in mehrfacher Hinsicht schockierenden Ausstellung zu beflügeln. Erst rückblickend stellt sich der Leser die Frage, ob der Künstler nicht schon vorher einige Schwellen des gesunden Verstandes in die wahnsinnige Dunkelheit überschritten hat. Durch die Kürze des Textes bleiben einige Aussagen ohne Widerspruch im Raum stehen und wie bei „23b“ ist es für den Leser schwer, zwischen „Realität“ und „Wahnsinn“ zu unterscheiden. Es lässt sich argumentieren, dass eine derartige Unterscheidung bei phantastischen Geschichten nicht unbedingt notwendig ist, aber hier wird so sehr mit Versatzstücken in Kombination mit einer leicht manipulierten Erwartungshaltung der Leser gespielt, dass eine bessere Differenzierung die Intention der Plots sogar verstärkt hätte.

 Zu den schwächeren Arbeiten gehört zum Beispiel „Jahrestag“, der zu schnell auf eine erkennbare Pointe hinsteuert und nicht im Rahmen der psychopathischen Horrorgeschichten eben nicht die Zeit nimmer, die Protagonisten auszuarbeiten, so dass auf eher „Natural Born Killers“ Niveau nicht einmal argumentiert, sondern nur plakativ widergespiegelt wird.

 Die letzte Story nicht nur dieser Sammlung, sondern zu diesem Thema ist „Endstation“. Ein junger Mann lernt auf den alltäglichen U-Bahnfahrten zur Arbeit mit Zoe eine interessante junge Frau kennen, die von ihrer Umgebung sehr geschätzt wird. Plötzlich hat er auch beruflichen Erfolg, auch wenn ein dunkles Geheimnis und die Eifersucht eines Freundes/ Kollegen diese Beziehung belastet. Isoliert voneinander wirken diese vier Geschichten sicherlich besser, in der Enge einer Anthologie scheint Sascha Dinse gerne bestimmte Plotelemente ohne Frage auch ein wenig variiert, aber erkennbar zu wiederholen. Dunkle Bilder, brutale Momente und die Erkenntnis, dass mindestens einer der Protagonisten anscheinend schon länger wahnsinnig ist sind aber verbindende, um nicht von sich wiederholenden Elementen zu sprechen.

 Zusammen mit der später vorgestellten Geschichte „Susan“ ist „Charlotte“ die einzige Arbeit, die bislang noch nicht wo anders publiziert worden ist. „Charlotte“ bildet eine Art Übergang von den in der Gegenwart spielenden Psychopathenstorys in den Bereich der Weird Fiction, vielleicht auch des ursprünglich viktorianischen Grusels mit seinen schockierenden Experimenten, den nicht nur langen Gängen der Säle; den diabolischen Ärzten und einmal „Rätsel“, das der Protagonist an der Seite des Lesers lösen muss. Die Geschichte nutzt zwar die angesprochenen Versatzstücke ebenfalls und wirkt teilweise gegen Ende zu stark konstruiert und zu wenig aus sich selbst heraus entwickelt, aber vor allem die stimmungsvolle und interessante erste Hälfte entschädigt für einige Schwächen während des hektischen Finales.  

 Sascha Dinse gelingt es bei „Ex Inferis“ eine unheimliche Story zu erzählen, dessen Zusammenhänge wie bei einigen anderen Arbeiten dem Leser sehr viel schneller klar sind als dem tragischen Protagonisten, die aber durch eine Abfolge von unheimlichen Szenen; dem Aufbrechen der Chronologie und schließlich dem morbiden Hintergrund den Leser trotzdem in seinen Bann schlägt. Es ist schwierig, dem Horrorgerne neue Ideen abzugewinnen und Sascha Dinse konzentriert sich sehr stark auf Versatzstücke, aber die Art der Präsentation hebt die auch auf der charakterlichen Ebene überzeugende Story aus der Masse hervor und zeigt, wo die Stärken des Autoren vor allem auf der atmosphärischen Ebene liegen.

 In der Sammlung finden sich auch einige Science Fiction Geschichten, wobei insbesondere „Susan“ nicht gleich als solche Arbeit zu erkennen ist. Sowohl die angesprochene „Susan“ als auch „Das Alison- Szenario“ setzen sich mit dem positiven Einfluss von künstlichen Intelligenzen auseinander. Beiden Texten ist die Herausforderung der Protagonisten gemeinsam, wobei insbesondere im ersten Beispiel es anscheinend keine befriedigende Lösung für das Problem gibt. Sascha Dinse spricht in diesem Text auch ein Thema an, das die Science Fiction lange Zeit vernachlässigt oder ignoriert hat. Bis zur interessanten Pointe – rückblickend wird der Leser andere vergleichbare Beispiele aus der Literatur und dem Kino kennen – verfügt die Story an Bord eines von seiner Crew angeblich verlassenen Raumschiffs und des Überlebenskampfes eines sich seiner übersteigerten Fähigkeiten gar nicht bewussten Kunstmenschen über einige spannende Variationen und wie angesprochen abschließend interessante Dankmodelle. „Susan“ ist lange Zeit gar nicht als Science Fiction Geschichten zu erkennen. Das liegt vielleicht auch daran, dass der Leser den Text unwillkürlich bei den Horrorgeschichten dieser Anthologie einordnet. Dem Protagonisten werden Fotos geschickt, auf denen er zusammen mit einer geheimnisvollen Susan zu erkennen ist. Was anfänglich wie Horror erscheint, ist abschließend die Möglichkeit auf eine zweite Chance in Kombination mit einer interessanten „First Contact“ Geschichte. Beide Texte nutzen auf sehr unterschiedliche positive Art und Weise die Versatzstücke des Genres, um nicht nur die Protagonisten, sondern vor allem auch die Leser mit mannigfaltigen Fragen ohne entsprechende Antworten zu konfrontieren.

 In den Bereich der Post Doomsday Fantasy fällt „Ein neuer Morgen“. Der Protagonist ist in einer archaischen Gesellschaft ein perfekter Spurenleser; ein Mann, der Unmögliches aufspüren kann.  Er soll ein Mädchen mit besonderen Fähigkeiten. Am Ende erweist es sich als Teil eines umfangreichen Plans, der diese archaische Welt auf den Kopf stellen soll. Wie bei einigen anderen Texten ist der zugrunde legende Plot für eine Kurzgeschichte zu umfangreich. Eine Novelle wäre angebrachter. In der vorliegenden Form wirken die einzelnen Plotelemente zu stark konstruiert und vor allem die Aktionen/ Reaktionen der wichtigsten Protagonisten zu komprimiert. Sascha Dinse fügt mit dem erzähltechnischen Rahmen ein weiteres Element hinzu, das die Spannung ein wenig hochhält. Unabhängig von der Kürze bietet die Story eine weitere Flanke Sascha Dinses an und lässt die Anthologie ausgewogener erscheinen als die zu vielen Texte von psychopathischen Wahnsinnigen.

 „Aus finstrem Traum“ präsentiert Sascha Dinse als stilistisch vielseitigen Autor mit einer durchaus morbiden Phantasie, der auch im Bereich der Science Fiction vor allem durch seine originellen Ausgangsszenarien überzeugen kann. Wie erwähnt ist es unglücklich, dass einige der Texte von der Grundstruktur her zu ähnlich sind, trotzdem unterhalten die insgesamt zehn Geschichten angenehm schauernd oder nachdenklich stimmend.  

Außer der Reihe 27
p.machinery, Murnau, September 2018, 244 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 142 6 – EUR 11,90 (DE)
eBook-ISBN 978 3 7438 8034 4 – EUR 5,99 (DE)

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