Erhebung

Stephen King

„Erhebung“ von Stephen King ist kein Roman, sondern eine Novelle, die als kleines gebundenes Hardcoverbändchen erscheint. „Erhebung“ ist keine aufregende Horrorgeschichte. Es gibt keine Erklärungen für ein ungewöhnliches Phänomen. Viel mehr ist es – auch wenn Protagonist Scott Carey das in einer relevanten Plotstelle anders sieht- eine Auseinandersetzung mit den „Sterben“, der Aussicht, dass eine Krankheit schließlich eine Art Nulllinie setzt, welche Scott Carey aufgrund seiner ungewöhnlichen Krankheit sogar selbst berechnen kann. Es ist ein zutiefst nachdenklich stimmendes und doch auch irgendwie optimistisches Buch, das viele Aspekte des eigenen Lebens hinterfragt, andere relativiert und am Ende fokussiert aufzeigt, was im Leben wirklich wichtig ist. Freundschaft, vielleicht auch Liebe und vor allem wie in einem Sam Peckinpah Western der Ausblick, das Leben trotz aller Fehler geordnet zu haben, bevor man vor seinem Schöpfer tritt.

Wie in den besten seiner Novellen konfrontiert Stephen King seine Leser gleich auf der ersten Seite mit dem „Problem“. Die handelnden Protagonisten lernt man erst später kennen.  Scott Carey nimmt ab. Täglich. Aber sein Körper verändert sich nicht. Die Waage zeigt jeden Tag weniger Gewicht. Auch wenn er sich die Taschen mit Gewichten vollstopft, lässt sich die Waage nicht täuschen. Sie zeigt jeden Tag weniger an. Der erste Schritt ist, die Waage zu überprüfen. Sie funktioniert. Der zweite Schritt ist, zu einem Arzt zu gehen, was Scott Carey in Form eines alten Bekannten auch macht. Der hat auch keine Erklärung für das Phänomen.

In Scott Carey erwächst die Erkenntnis, dass er wahrscheinlich irgendwann nicht mehr genug wiegt, um auf der Erde zu bleiben. Er beginnt vor allem im Angesichts eines großzügig budgetierten Online Werbeauftrags sein Leben zu verändern und sich mit der Tatsache vertraut zu machen, dass seine Zeit auf Erden und damit auch in Castle Rock begrenzt ist.

Mit dieser Erkenntnis öffnet Stephen King auch auf eine ungewöhnliche Art und Weise die ganze Novelle.  Die Grundidee des zwanghaften Abnehmens ist bei Stephen King nicht neu.   Im letzten Richard Bachmann Roman „Thinner“ ging es um einen Fluch.  Auch in einer anderen Novelle “Gwendys Wunschkasten“ ging es ums Abnehmen. Wie „Erhebung“ spielt sie in Castle Rock, Kings so fiktiver wie von unheimlichen Ereignissen heimgesuchter Stadt. Nicht nur wegen eines lesbischen Pärchens, das dort ein Restaurant aufgemacht hat, erweist sich die Stadt als erzkonservativ, republikanisch, im Grunde ignorant und selbstverliebt. Zwischen den Zeilen ist „Erhebung“ Stephen Kings Abrechnung mit dem gegenwärtigen Amerika, das es liebt, seine angebliche moralische Überlegenheit auszuspielen.

Stephen King positioniert sich für die Gleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen Ehen. Wobei er einige Punkte auch relativiert. Wenn die beiden jungen Frauen ihre Beziehung in den eigenen vier Wänden ausgelebt hätten, wären die Bewohner von Castle Rock nicht so empört gewesen.  Aber öffentlich?

Dazu kommt, dass eine der Frauen eine erfolgreiche Sportlerin gewesen ist, die als Favouritin in den alljährlich stattfindenden Lauf geht. Nur Scott Carey inzwischen als innerliches Leichtgewicht, aber äußerlich unverändert – eine weitere Wendung, die Stephen King nicht erläutern möchte  - kann ihr Konkurrenz machen.

Dieses Rennen wird einiges sowohl in den Ansichten der Bewohner der amerikanischen Kleinstadt, aber auch in Scott Carey verändern. Er hilft uneigennützig und findet Freunde. Plötzlich ändert sich auch die Einstellung aller Menschen. Unwillkürlich stellt sich der Leser die Frage, was wäre, wenn die mit Vorurteilen konfrontierten Menschen keine sportliche Vergangenheit hätten oder so unscheinbar sind, das die Diskrimination nicht einmal auffällt?  Aber aus handlungstechnischer Führung benötigt Stephen King einen derartigen Katalysator, um die politische Komponente abzuhandeln.

Scott Carey weiß, das er „sterben“ wird. Ihm bleibt nur noch wenig Zeit. Stephen King versucht eine würdevolle Möglichkeit zu beschreiben, wobei Carey nur im Endstadium und auf eine seltsame Art und Weise unter dem Gewichtsverlust leidet. Er selbst bezeichnet sich als eine Art Comicfigur und trifft dabei vielleiht sogar teilweise ins Schwarze. Ein krebs- oder an Alzheimer erkrankter Mensch hätte es deutlich schwieriger und ob das Umfeld so reagieren würde, bleibt auch unbeantwortet.

Auch Richard Matheson hat in „Die seltsame Geschichte des Mr. C“ eine derartige, aber anders im Detail gelagerte „Leidens-„ und gleichzeitig Evolutionsgeschichte erzählt. Nicht umsonst hat Stephen King seine Novelle Matheson gewidmet.  Beide Protagonisten wachsen in diesem Zeitraum über sich hinaus. Sie sind dreidimensional, sympathisch und können der Umwelt einen Eulenspiegel provokativ mitten ins Gesicht halten, um auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ihrer unmittelbaren Umgebung gutes zu bewirken. Carey ist nicht der große Held oder gar Retter einer Stadt. Castle Rock wird nicht von fremden Mächten bedroht. Es geht um das alltägliche Miteinander und das Überwinden von vor allem Vorurteilen, die man selbst nicht entwickelt, sondern nur von der Umwelt aufgenommen hat. Es ist eine Art Evolutionsprozess in beide Richtungen, welche die Nebenfiguren durchlaufen. Während das lesbische Pärchen auch auf die sensiblen Strömungen in der Stadt zu reagieren beginnt, nimmt diese die Beiden auch als Menschen war.

Der Spannungsbogen besteht im Grunde nur aus der Frage, ob der Prozess sich stoppen lässt. Richard Mathesons Mr. C musste auf seinem Weg in eine neue Dimension immer wieder Herausforderungen überwinden . Scott Carey muss am Ende sein alltägliches Leben ordnen und einfache Wege wie auf einem vereisten Fußweg werden zu einer Gefahr, aber grundsätzlich verzichtet Stephen King in dieser intimen Geschichte auf die profanen Ablenkungen und konzentriert sich auf eine Handvoll dreidimensionaler, liebevoll mit viel Routine entwickelte Figuren.

Daher ist das Ende konsequent. Es wird viele Menschen in ihrem Inneren berühren. Würdevoll nimmt Scott Carey Abschied von seiner Welt und schaut über den begrenzten Horizont ausgerechnet der Kleinstadt, in welcher er aufgewachsen ist. Immer am Rande des Pathos, vielleicht ein wenig kitschig, aber auch ausgesprochen erwachsen und konsequent endet „Erhebung“ auf einer Note, die den Leser erst schlucken und dann auch irgendwie lächeln lässt.

Stephen King zeigt auf, wie ein sehr mutiger Mann sich nicht nur seiner Umwelt stellt und auf Ungerechtigkeiten auf eine eigene Art und Weise trotz anfänglicher Ablehnung reagiert, sondern wie man den Moment genießen und die Sorgen bei Seite schieben kann.   Die Krankheit hat Scott Carey zu einem Menschen gemacht, der mehr zufrieden ist. Sie hat ihn neue Menschen kennenlernen lassen, deren Liebe und Respekt er mitnimmt. Er hat auch in ihren Herzen einen Eindruck hinterlassen, der lange über den „Tod“ hinausgeht.

Und das ist die intime Botschaft dieser empfehlenswerten Novelle, die unterstreicht, das Stephen King mit einer phantastischen wie irrationalen Idee beginnend in erster Linie ein großartiger Romancier ist, der ein Auge auf den Ungeistern der Gegenwart hat. Er kann nicht für alles Lösungen anbieten, aber mit seiner erzähltechnischen Kunst kann er zumindest Türen im Geist seiner Leser öffnen und sie zum Nachdenken anregen. Und hier schlägt das dieses Mal nicht einmal dunkle Herz einer wunderbaren Novelle, einer der besten und am meisten beeindruckenden Arbeiten Stephen Kings seit vielen Jahren.    

Erhebung: Roman

  • Gebundene Ausgabe: 144 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (12. November 2018)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453272021
  • ISBN-13: 978-3453272026
  • Originaltitel: Elevation
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