Das Land des Lachens

Jonathan Carroll

Der Heyne Verlag legt Jonathan Carrolls Debütroman „Das Land des Lachens“ neu auf. Der Roman erschien 1986 zum ersten Mal im Suhrkamp Verlag, es folgte eine wunderschön illustrierte zweite Ausgabe im gleichen Verlagshaus. Der Kontakt zum Suhrkamp Verlag, über dessen typische lila Gestaltung sich Jonathan Carroll vor wenigen Jahren in einem Interview mit dem LOCUS Magazin despektierlich geäußert hat, kam  über den Sohn von Stanislaw Lem zustande, der an der American International School zur Schule ging. Jonathan Carroll unterrichte dort. Franz Rottensteiner veröffentlichte viele Jahre ausschließlich Jonathan Carrolls im Grunde magische Realismus Geschichten, ein Subgenre der modernen Fantasy, dem sich inzwischen Autoren wie Charles de Lint mit viel Phantasie, aber auch immer einem kritischen Blick auf die gegenständliche Umgebung angenommen haben. Meistens dringen die phantastischen Elemente in eine der Leser zumindest in der Theorie zugängliche und auch nachvollziehbare Gegenwart und direkt/ indirekt vertraute/ bekannte Orte ein.

Der Heyne Verlag publizierte schon in den neunziger Jahren die Novelle „Black Cocktail“, die von der im Suhrkamp Verlag veröffentlichten Sammlung „Die panische Hand“ ausgegliedert worden ist. Die drei Crane´s View Bücher erschienen dann im Eichborn Verlag. Während „White Apples“ nicht ins Deutsche übertragen wurde, gibt es von Jonathan Carrolls vorletztem Roman nur eine polnische Ausgabe.  Seit 2008 hat der in Wien lebende Autor nichts mehr professionell veröffentlicht.

„Das Land des Lachens“  ist kein autobiographischer Roman, auch wenn sich der in eine Künstlerfamilie geborene Carroll wahrscheinlich am ehesten mit den beiden Kindern sehr berühmter Eltern identifizieren kann. Seine Mutter war Schauspielerin, Sängerin und hat Lyrik veröffentlicht. Sein Vater Sidney Carroll ist Drehbuchautor gewesen, sein größer Erfolg war der Paul Newman Streifen „Haie der Großstadt“. Sein Halbbruder ist der Komponist Steve Reich. Seit 1971 ist Carroll mit der Künstlerin Beverly Schreiner verheiratet und zog nach Wien. Seine ersten Bücher fanden zwar in den USA euphorische Resonanz bei Autoren wie Stephen King, Peter Straub und vor allem auch Christopher Priest, ein kommerziell nachhaltiger Erfolg blieb ihm sowohl in den Staaten als auch Europa verwehrt, da seine Bücher immer die Konventionen positiv sprengten und sich sperrig  weigerten, in dem umfangreichen Bereich der Phantastik subgenretechnisch eingesperrt zu werden.

Mit der nicht illustrierten Neuauflage von „Das Land des Lachens“ öffnet der Heyne Verlag einer neuen Lesergeneration Zugang zu einem der interessanten, unterschätztesten phantastischen Autoren der vor allem achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts.   

Noch stärker als die späteren Romanen lässt sich „Das Land des Lachens“ in drei Teile aufteilen. Da wäre die Vorbereitung; der realistische Teil der Geschichte. Im mittleren Abschnitt die Integration phantastischer Ideen, sorgsam mit kleinen Szenen und manchmal nur Gesten, beiläufig gesprochenen Worten und schließlich die Pointe, im Grunde der letzte Absatz des Buches, der vieles nicht nur bei den wichtigsten Charakteren, sondern vor allem auch den Lesern auf den Kopf stellt.

Wie die besten von Jonathan Carrolls Büchern handelt es sich bei „Das Land des Lachens“ auch um eine äußerliche wie innerliche Reise von nicht unbedingt selbstbewussten, von äußeren Elementen fast durchgehend negativ geprägten dreidimensionalen und trotz oder vielleicht auch wegen ihrer Schwächen sympathischen Figuren.

Thomas Abbey arbeitet als Lehrer in einer kleinen ländlichen Schule und ist ein glühender Fan Marshall Frances, einem der populärsten Kinderbuchautoren. Thomas Abbey ist aber auch der Sohn eines der populärsten Schauspieler des Landes, der zusammen mit seinen Brüdern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist. Jeder fragt ihn nach seinem Vater, wie es ist, in dessen langen Schatten aufzuwachsen. Es gibt auch Frauen, die nur mit ihm aus und ins Bett gehen, um indirekt das Erlebnis zu spüren, mit dem „Vater“ Sex gehabt zu haben. In kleinen Anekdoten beschreibt Jonathan Carroll erstaunlich plastisch, wie unterschiedlich das Bild der Öffentlichkeit und seine persönliche Perspektive auf seinen Vater ist. Dabei greift er nicht zu Klischees eines Kinderschlägers oder Frauenschänders oder Alkoholikers. Viel mehr möchte der Vater immer im Mittelpunkt stehen, geliebt und anerkannt werden. Und diese Bewunderung hat er sich manchmal auch nur durch schauspielernde Gäste der zweiten oder dritten Garnitur geholt. Am Ende wird Thomas Abbey erkennen, dass der Versuch, Marshall Frances näher zu kommen gleichbedeutend ist mit dem Versuch, auch seinen verstorbenen Vater besser zu verstehen.

In einem kleinen Buchladen lernt Thomas Abbey Saxony Gardner kennen. Auch sie liebt Marshall France und kauft dem deutlich reicheren Thomas Abbey eine seltene Ausgabe eines Kinderbuches ab. Allerdings ist sie quasi gezwungen, aus Geldnot auf dessen dreifaches Angebot einzugehen. Es entwickelt sich zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Menschen eine Freundschaft. Als Kind musste Saxony über Monate wegen schwerer Verbrennungen ihrer Beine im Krankenhaus liegen, später wieder laufen lernen. Als Erwachsene schnitzt sie unter anderem Marionetten, ist von deren Geschichte fasziniert.

Da sich Thomas Abbey schon länger in seinem Beruf langweilt, beschließt er eine Auszeit zu nehmen und mit Saxony Gardner als Assistentin eine Marshall France Biographie zu schreiben. Beide wundern sich, dass sich noch niemand diesem Thema angenommen hat. Ihr erster Weg führt sie nach New York, wo Marshall Frances Agent nicht nur ein spürbares Unwissen hinsichtlich der Zeit vor der Einwanderung in die USA aufweist, sondern Abbey und Gardner erklärt, das das Vorhaben nur mit Hilfe von Marshall Frances einziger, sehr schwieriger Tochter Anna gelingen könnte. Alle bisherigen Versuch hat sie abgelehnt.

Daher müssen die beiden nach Galen reisen, wo Marshall Frances die letzten Jahrzehnte gelebt und vor allem auch alle seine Bücher geschrieben hat. Dort lebt noch Anna.

„Das Land des Lachens“ ist bis in die ersten Tage in Galen hinein eine fast klassisch klischeehaft zu nennende Liebesgeschichte zwischen zwei Außenseitern der Gesellschaft. Thomas Abbey weiß im Grunde gar nicht, was er an dem aus seiner Sicht Mauerblümchen Saxony finden soll, während die Frau ihn aus ganzem Herzen, aber immer auch der Furcht vor Enttäuschung liebt. Jonathan Carroll streut extreme viele kleine Details ein, nimmt sich Zeit, Stimmungen und die Atmosphäre der Geschichte, aber auch seine lebendigen, mit so vielen Fehlern und Neurosen behafteten Figuren zu entwickeln.

In Galen selbst werden sie erstaunlich freundlich aufgenommen. Auch Anna ist nicht die Kratzbürste, als die sie der Agent beschrieben hat. Allerdings will sie auch nicht gleich die Erlaubnis geben, eine Biographie über ihren Vater zu verfassen. Es scheint so, als wenn Abbey/ Gardner und Galen/ Vater und Tochter France im übertragenen Sinne noch zusammenwachsen müssen.

Der erste Einbruch von phantastischen Elementen ist nicht unbedingt die Ähnlichkeit, die Galen mit den Kinderbüchern hat. Nicht einmal die ersten Entdeckungen, dass Marshall Frances eher Sachen in seine Bücher exportierte und dann extrapolierte. Der erste Anflug von übernatürlichen Elementen ist der plötzliche Tod eines Jungen, der vor Thomas Abbeys Augen von einem Auto überfahren wird.      

Die Stärke des Mittelabschnitts ist der schmale Grat zwischen möglichen übernatürlichen Ereignissen, von denen Thomas Abbey nur eines direkt erlebt und der phantastisch surrealistischen Hintergrundgeschichte, die ausschließlich ihm Anna Frances erzählt. Der Leser will im Gegensatz zum skeptischen Thomas Abbey jede Aussage glauben. Vielleicht, weil sie Ruhe in unruhigen Zeiten verspricht. Vielleicht weil die Grundprämisse so unglaublich und doch auch glaubwürdig wie in einem Science Fiction Epos aus Isaac Asimov Feders wirkt. Spontan wird man denken, das dieser Roman eine Fantasy Version in einer amerikanischen Kleinstadt spielend von Isaac Asimovs „Foundation“ Trilogie ist.  Hari Sheldon hat mit der Psychohistorie die Ära der Degeneration, der dunklen Zeit verkürzen wollen, während Marshall France vielleicht nicht ganz freiwillig den Status Quo erhalten und  eine unabänderliche Ordnung gegen das Chaos schaffen wollte. Jede Abweichung vom Plan ruft in Galen Unruhe hervor und beschwört die Angst. Erst als die Dinge sich wieder ordnen und viele der Meinung sind, dass Thomas Abbey der richtige Mann am geeigneten Fleck ist, scheint der Plot auf das notwendige „Happy End“ zuzusteuern.

Die Stärke des Buches und für einen Erstling bemerkenswert ist, dass Jonathan Carroll schon sehr souverän mit der Erwartungshaltung seiner Leser zu spielen beginnt. Er stellt Thomas Abbeys Ankunft in Galen einen mächtige Gefahr entgegen.  Der Punkt, an dem Thomas Abbeys Biographie die Ankunft Marshall Frances in der kleinen amerikanischen Stadt behandelt.  Aber die einzelnen Komponenten des Romans und damit auch der Protagonisten müssen harmonieren. Wenn der Plot in Richtung einer intellektuellen Frankensteingeschichte abdriftet und Leben aus dem Wort erschaffen werden soll oder vielleicht auch muss, wirkt diese Idee aus der Perspektive eines nüchtern denkenden Menschen absurd. Die Stärke des Buches ist, dass der Leser viel schneller als der Skeptiker Thomas Abbey -  wahrscheinlich hat ihn Jonathan Carroll absichtlich nach dem ungläubigen Thomas benannt - den Wahrheitsgehalt erkennt und an Annas Lippen klebt, wenn sie ihm basierend auf den hinterlassenen Journalen ihres Vaters Galen und seine Einwohner erläutert.     

Am Ende akzeptiert er widerwillig und erzwungenermaßen seine neue, besondere Rolle. Jonathan Carroll drückt dabei im metaphorischen Sinne aus, welche Kraft ein guter Schriftsteller, ein im Grunde geborener Erzähler haben kann. Auf seinen Seiten erschafft und vernichtet er Leben. In „Das Land des Lachens“ geht dieser Prozess inklusiv der entsprechenden Verantwortung sogar über das reine Erschaffen hinaus. Der Sprung zum Finale und anschließend zum Epilog könnte für einige Leser zu abrupt, vielleicht auch zu krass sein, aber Abbey/ Carroll haben den Plot ausschließlich in sich selbst betrachtend den Wendepunkt erreicht. Ein Kreis schließt sich. Eine Geschichte ist zu Ende und beginnt gleichzeitig.

Auf eine tragische Art und Weise erkennt Thomas Abbey, das er wie Marshall Frances eine besondere Gabe hat. Während Marshall Frances diese Gabe im Grunde durch einen Zufall entdeckte und dann so weit es geht bis auf zwei/ drei Exzesse verantwortungsbewusst damit umgegangen ist, wurde Thomas Abbey quasi auch durch die eigene Gier, etwas Besonderes zu erschaffen und damit auch unsterblich – wie sein Vater – zu werden und Anna Manipulationen gezwungen, sich dieser Verantwortung zu stellen.

Der Epilog wirkt zynisch.  Thomas Abbey hat erkannt, dass er nicht nur inneren Frieden, sondern auch ein längeres Leben erlangen kann, in dem er zum zweiten und wahrscheinlich letzten Mal auf seine besondere „Fähigkeit“ zurückgreift. Die letzten beiden Sätze bereitet Jonathan Carroll sorgfältig vor, auch wenn sie schließlich den Leser überraschen. Aber wie alles in diesem Buch erscheinen sie trotz der Irrungen und Wirrungen der beschriebenen zahlreichen Leben konsequent und unvermeidlich.

Neben den dreidimensionalen Figuren und der gelungenen Balance zwischen magischem Realismus und phantastischen Exkursionen ist es vor allem die grundlegende, in jedem Autoren schlummernde Idee, welche „Das Land des Lachens“ zu einem zeitlosen Buch macht, zu einem grandiosen Debüt, das die Neuauflage im Heyne Verlag mehr als verdient hat.

Das Buch verfügt über ein interessantes Nachwort von Dennis Scheck, aber empfehlenswerter ist aufgrund der wunderschönen, den Text eindrucksvoll begleitenden vierfarbigen Bilder die zweite Auflage im Suhrkamp Verlag. 

Das Land des Lachens: Roman

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag; Neuveröffentlichung Edition (13. September 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 368 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453321049
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453321045
  • Originaltitel ‏ : ‎ The Land of Laughs
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