Der Ballsaal auf der dunklen Seite des Mondes

Michael Siefener

Michael Siefeners 2016 veröffentlichter Kurzroman „Der Ballsaal auf der dunklen Seite des Mondes“ ist eine dieser verstörenden Geschichten wie Polanskis „Repulsion“, die von ihren Charakteren leben und den Leser auch gegen seinen Willen mitziehen.

Die Story ist geradlinig erzählt, wird auf der einen Seite ruhig und detailliert entwickelt, beinhaltet aber ein atemberaubendes Tempo. Damit die Geschichte funktionieren kann, ist sie allerdings auch auf Klischees angewiesen. So ist Elke, die beste Freundin, kein Kind von Traurigkeit. Sie wechselt ihre Beziehungen wie Hemden. Ist mit Partner sabbernd abhängig, ohne einen jeweiligen Partner wird auf die Männerwelt per se geschimpft, während schon nach dem nächsten „Opfer“ Ausschau gehalten wird. Reuter ist der klassische Kollege, den viele Frauen, vor allem ledige Frauen aus Großbetrieben kennen. Ein Mann, mit dem man arbeiten muss, mit dem frau allerdings nichts zu tun haben will. Hilfsbereit, devot, anhänglich wie Hund. Öffnet die Frau ihre Flanke, ist er sofort da und versucht, sich in das Leben zu drängen. Diese beiden markanten Extreme braucht der Roman, damit die Handlung funktionieren kann.

Zwischen Elke und dem Reuter steht mit Anna Tiedemann eine zweiunddreißig Jahre alt Frau. Nach zwei schlimmen Beziehungen hat sie sich in ihrem Single Dasein eingerichtet. Sie arbeitet im Personalbüro eines großen Kölner Kaufhauses. Sie hat eine eigene kleine Wohnung. Sie liebt Krimis und ihre Ruhe. Zwar wünscht sie sich im tiefsten inneren wieder einen Partner, aber dessen Eintrittsbarrieren wären auf den ersten Blick sehr hoch.

Ihre Freundin Elke macht sie auf eine Kontaktanzeige aufmerksam. Der Text ist ungewöhnlich, wirkt melancholisch, traurig, poetisch und gleichzeitig auch verstörend düster. Anna Tiedemann will anfänglich nicht schreiben, wird aber überredet. Sie entschließt sich, auf die Kontaktanzeige zu schreiben. An Bodo Sierck mit einer Postfachanschrift. Wenige Tage später erhält sie eine Antwort, die mehr Fragen offen lässt, als es Antworten gibt. Der Absender schickt kein Foto von sich, er will auch keine Fotos von Anna Tiedemann haben. Er will momentan nur einen Briefkontakt mit seiner Seelenverwandten. Seine Antworten sind tiefgründig, aber auch schwer zu interpretieren. Er empfiehlt Anna Tiedemann „Tristan und Isolde“, Geschichten von Poe oder Gedichte aus der Feder des österreichischen Expressionisten Georg Trakl. Antworten dauern immer einige Tage und ein persönliches Treffen lehnt er ab.

Elke macht sich Sorgen um ihre Freundin und bittet sie, den Briefkontakt abzusprechen. Aus ihrer Sicht ist Bodo Sierck ein gestörter Geist. Anna Tiedemann ist inzwischen derartig den Briefen verfallen, trägt sie am Körper, schwänzt ihre Arbeit und hofft jeden Tag aufs Neue, das ein Brief kommt. Inzwischen scheint sich ihr Brieffreund auch zu einem Schutzengel zu entwickeln, denn der aufdringliche Nachbar ist verprügelt worden. Niemand außer Bodo Sierck hatte Anna Tiedemann von der unangenehmen Begegnung mit ihrem Nachbarn berichtet. In ihrem Briefkasten findet sie eine Nelke und in unregelmäßigen Abständen scheint jemand von der anderen Straßenseite ihre Wohnung zu beobachten. Sie hat das Gefühl, als wenn sich ihr Bodo Sierck in seine eigenen Tempo nähert, bis sie gemeinsamen im Ballsaal auf der dunklen Seite des Mondes in die Unendlichkeit tanzen können.

Damit die Geschichte funktioniert, benötigt der Autor nicht nur die Leitplanken der angesprochenen klischeehaft pragmatisch gezeichneten Nebenfiguren. Anna Tiedemann ist Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Sie darf nicht zu wehleidig, zu bemitleidenswert erscheinen. Auf der anderen Seite nicht zu stark, zu entschlossen und zu sehr in ihrer Existenz gefestigt. Ansonsten wäre es nicht so leicht, ihre kleine, auch gemütliche Welt aus den Angeln zu heben. Michael Siefener lässt sich zu Beginn der Geschichte Zeit, Anna Tiedemann ausführlich zu beschreiben. Sie ist sportlich, nicht unattraktiv, aber auch ein wenig schüchtern und bei Männern ordnet sie sich lange Zeit ihren jeweiligen Macken unter. Sie sucht die Schuld vor allem bei sich. Nach den beiden Trennungen ist sie psychisch angeschlagen. Sie weiß im Unterbewusstsein, dass die Fehler nicht auf ihrer Seite liegen. Sie kann die Erfahrungen aber auch nicht abschütteln.

Und in diese fragile, aber zumindest im Augenblick auch stabile Welt bricht mit dem poetischen Briefeschreiber Bodo Sierck eine Art Tsunami, der Anna Tiedemanns geheime Empfindungen aufrüttelt und eine Seite (wieder) freigelegt, die in dieser exzessiven Form (noch) nicht vorhanden gewesen ist, aber zumindest irgendwo in ihrem Inneren schlummerte.

Damit der Plot funktioniert, müssen die anderen Charaktere abgelenkt sein. Insbesondere ihre langjährige Freundin Elke hätte den körperlichen wie seelischen Verfall, die Abhängigkeit von Bodo Siercks Briefen besser erkennen können. Immerhin war Elke auch bei den beiden bisherigen Trennungen an ihrer Seite. Daher muss der innere Verfall inklusive der körperlichen Exzesse schnell vorstatten gehen. Es ist nicht deutlich, wie lange der Briefverkehr zwischen Bodo Sierck und Anna Tiedemann gedauert hat. Anfänglich präsentiert Michael Siefener den ganzen Briefverkehr. Später scheinen es nur Ausschnitte zu sein. Aber es muss schnell gegangen  sein, so dass Elke zwar Warnzeichen erkennen konnte, aber die Rasanz des  Verfalls unterschätzt hat.

Die wichtigste Identifikationsfigur für Anna Tiedemann ist indirekt der Leser. Mit einer chirurgischen Genauigkeit beschreibt Michael Siefener die Auswirkungen dieser Beziehung. Anna Tiedemann ist dabei ein überzeugend dreidimensionaler Charakter, der immer wieder aus dem obsessiven Alptraum zu erwachen scheint, um das eigene Leben wieder zu ordnen und in den Griff zu bekommen. Allerdings verfällt sie wie eine Drogensüchtige auch wieder Bodo Sierck und seinen Briefen. Es gibt einen Moment, in dem Anna Tiedemann noch die Kontrolle über ihr Leben hat und den Kontakt aktiv abbricht, nachdem sie einen der Antwortbriefe – Bodo Sierck hat ihre Fotos ohne einen Blick drauf zu werfen vernichtet und weigert sich auch, eigene Bilder zu schicken-   als persönliche Kränkung empfindet. Aber zu diesem Zeitpunkt ist im Grunde alles zu spät.

Das Ende wirkt ein wenig konstruiert und der Zufall spielt eine Rolle. Wieder ist das verbindende Element Elke und es erscheint unwahrscheinlich, dass sie beim anberaumten Treffen nicht zumindest die Namen der Gäste kennt. Aber auch hier ist die einfachste Antwort immer die Falsche. Es ist ein Zwischenstopp auf dem Weg in den Abgrund für die meisten Leser, aber für Anna Tiedemann der einzige Weg zur Erfüllung.

„Der Ballsaal auf der dunklen Seite des  Mondes“  ist eine Liebesgeschichte. Für einige Leser ist es auch eine Perversion, provozierend, verstörend und selbstzerstörend. Aber es ist eine Liebesgeschichte und Anna Tiedemann findet in dieser Form der Hingabe, der Aufgabe des eigenen Ichs, ihre persönliche Erfüllung. Der Leser kann und muss ihrer Position konträr gegenüberstehen, aber Michael Siefener erschafft in seinem Roman Fakten. Er lässt keine Diskussionen im Handelsverlauf zu. Damit unterscheidet sich der Autor von vielen seiner Kollegen, die provozieren wollen, aber schließlich eine Lösung auf dem kleinsten gemeinsamen literarischen Nenner finden. Auf der anderen Seite lebt die Geschichte von der anfänglichen Verankerung in der Realität mit ihren großen Themen wie Einsamkeit, Isolation und schließlich auch stupiden, den Geist lähmenden Alltagstrott. Anna Tiedemann sucht auf ihre Art anfänglich unbewusst - sie ist schließlich nicht mehr ganz Herr ihrer Sinne -  den Ausbruch aus den bisherigen auch inneren Zwängen. Natürlich ist es auch die Geschichte einer Obsession. Oder besser zweier Obsessionen, die nicht entfacht worden sind, weil die Umwelt den Betroffenen schaden will, sondern ihnen helfen wollte. Dieser Fakt ist die bittere Ironie dieser Geschichte. Der Leser kann sich unfreiwillig die Frage stellen, ob der Briefschreiber Sierck und Anna Tiedemann ohne einander glücklicher gewesen wären als in ihrer die Geschichte abschließenden Existenz. Der letzte Satz des Romans verneint diese Tatsache und der Leser hat,  wie die Nebenfiguren zu akzeptieren, welchen Weg Anna Tiedemann gewählt hat, um zu ihrem geistigen  Gegenstück zu kommen. Michael Siefener urteilt nicht. Die Deutung überlässt er den Lesern. Und das ist die eigentliche Stärke dieser emotionalen, verstörenden und doch gleichzeitig auch faszinierenden, im Grunde auch zeitlosen Liebesgeschichte.   

Der Ballsaal auf der dunklen Seite des Mondes

Atlantis Verlag

Titelbild: Timo Kümmel
A5 Paperback. ca. 168 Seiten, ISBN 978-3-86402-336-1.
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