Der Krocketspieler

H.G. Wells

Joachim Körber hat im Rahmen seiner kleinen H.G. Wells Ausgabe mit „Der  Krocketspieler“ eine als Einzelband veröffentlichte Novelle des Briten aus dem Jahr 1936 als deutsche Erstausgabe vorgelegt. In einer auf 250 Exemplare begrenzten Auflage fügte der Übersetzer und Herausgeber der Geschichte einige Extras hinzu. Als hochglanzkarschierter Band im Pulp Lock mit Samtschuber ist das Buch von Alexandra F. illustriert worden. Die Zeichnerin hat auch ein handsigniertes Portrait H.G. Wells hinzugefügt. Horst Illmer hat  ein ausführliches, aber wenig in Details gehendes Nachwort hinzugefügt. Im Oktober 2021 wurde auf dem Preetzer Papiertheatertreffen das Stück vom Papirtearet Meklenborg aufgeführt.

„Der Krocketspieler“ besteht aus vier miteinander verbundenen Episoden. Der Ich- Erzähler ist der im Titel erwähnt Krocketspieler und er wird diese Tradition auch gegen alle Unbilden der Welt da draußen im Schlusssatz verteidigen. Vielleicht ist es ein ironischer Seitenhieb auf die britischen Zeitgenossen, die blind der drohenden dunklen Wolken über Europa, ihre Teezeit genießen, Krocket oder Bridge spielen und vor allem britisch sein wollen. Auch wenn die Zeit diese Traditionen nicht nur schon eingeholt, sondern überholt hat.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht aber Dr. Finchatton, ein Landarzt, den der Ich- Erzähler eher zufällig kennenlernt. Mit der Übernahme einer Landarztpraxis in Cainsmarsh vor Abschluss seiner Ausbildung als Arztes an einem örtlichen Krankenhaus hofft Dr. Finchatton, der Hektik der Gegenwart zu entkommen und in einer ländlichen Idylle den  Menschen zumindest  hinsichtlich einer Grundversorgung helfen zu können, die ansonsten eher durch die sozialen Netze fallen. Mit den bescheiden lebenden Menschen kommt er relativ gut klar.

Einige Ereignisse verstören ihn. Er findet einen tot geschlagenen Hund am Straßenrand.  Der örtliche Pastor wird verhaftet, weil er seine Frau in einer Art Wahn brutal verprügelt hat. Dabei hat die Frau keine Anzeige gestellt.   

Anscheinend ist die Gemeinde Cainsmarsh von einer seltsamen Furcht ergriffen.  Der Erzähler schlägt den Bogen zu den Ausgrabungen in der Nähe, die unter anderem einen riesigen Schädel eines der Vorfahren der Menschen aus der ewigen Erde geholt haben. Aber H.G. Wells ist kein H.P.  Lovecraft, der kraftvoll und atmosphärisch stimmig das Unbekannte nicht selten aus der Tiefe der Erde in einen direkten Zusammenhang mit seltsamen Vorkommnissen in der Gegenwart bringt. H.G. Wells ist eher ein plakativer Erzähler, der subjektive Empfindungen und nur selten Fakten in dieser Novelle gegenüberstellt und den Leser - von dem Krocketspieler glänzend vertreten - selbst entscheiden lässt.

Auch wenn Dr. Finchatton und der Krocketspieler zu Beginn über Geister und daraus abgeleitet auch Geistergeschichten sprechen, handelt es sich nicht um eine klassische Gespenstergeschichte. H. G. Wells nutzt die eher schematisch verwandten Elemente des Genres – siehe die Kette von immer unheimlicher werdenden Ereignissen in der Gemeinde Cainsmarsh -, um eine existentielle Geschichte zu erzählen. Der Name der Gemeinde mit einer möglichen Anspielung auf den biblischen Kain und damit das entsprechende Kainsmal ist der Ausgangspunkt der Geschichte.

Neben der Brutalität schleicht sich  die Angst vor dem Unbekannten nicht nur in die Geschichte, sondern vor allem Dr. Finchattons Gemüt. H.G. Wells impliziert zu Beginn, dass Finchatton nicht zu den charakterstärksten Menschen auf der Erde gehört und sich schnell beeinflussen lässt. So hat er fast die Flucht aus dem Großstadt Krankenhaus in die Gemeinde Cainsmarsh angetreten und die finale Approbation nicht abgelegt. Vielleicht, weil er dem Druck nicht standhalten kann.

Er ist der Ansicht, das seine Mitmenschen alle  ängstlich erscheinen und so agieren, als  wären sie von einer unbekannten Kraft förmlich besessen. Die Einwände, dass keine der von Dr. Finchatton beschriebenen Situationen gänzlich ungewöhnlich und stellvertretend für die Gemeinde ist, werden weggewischt. Ihre Allgemeingültigkeit ist auch für die Bedeutung des letzten Kapitels wichtig. Dr. Finchatton sucht einen Nervenspezialisten auf, der eine gänzlich andere Ursache findet.

Der Reiz der Novelle liegt vor allem in ihrer Erzählstruktur. Aus heutiger Sicht weiß der Leser, dass es keine Geister gibt und auch keine Geister in der Geschichte auftauchen. Aber Finchatton spricht etwas Anderes in den Menschen an und legt es bloss. Dabei handelt es sich um eine Urangst. Die Zivilisation ist brüchig. Jahrtausende von menschlichem Fortschritt bis in die unsichere Zeit zwischen den beiden Weltkriegen haben in sozialer wie technischer Hinsicht die Menschen in der Spitze, aber nicht unbedingt in der Breite auf eine Existenzebene gehievt, die „zivilisiert“ genannt werden kann. Aber diese Zivilisation ist eine sehr dünne Schicht, unter welcher die Urinstinkte des Menschen, aber auch der Hang zu einer Dominanz und Brutalität gegenüber Schwächeren hausen. Sie können jederzeit in einer kleinen Gemeinde wie Cainsmarsh, aber auch in Hinblick auf  die Entwicklungen im faschistischen Deutschland seit 1933 ausbrechen. Zwar konzentriert H.G. Wells die Geschichte auf insgesamt zwei im Mittelpunkt stehende Protagonisten, die warnende Botschaft ist aber nicht nur allgemeingültig, sie ist zeitlos. Das zeigen die Exzesse des 21. Jahrhunderts mit dem Rückfall in die Barbarei deutlich.

Dabei unterscheidet H.G. Wells zwischen dem alltäglichen Überlebenskampf, dem sich die menschlichen Vorfahren stellen mussten, und dem Sündenfall – Kain erschlägt seinen Bruder Abel -, der zeigte, dass Gewalt ein verführerisches Übel ist und bleibt. Es wird die Menschen immer begleiten und jeglicher Versuch, es zu ignorieren, ist zum Scheitern verurteilt. Das hilft nicht einmal die britische Tradition.  Sie kann die Entwicklungen ein wenig aufschieben und zur Ignoranz führen, sie wird sie aber niemals umkehren oder gar verhindern. Egal, wie lange das Krocketspiel dauert.

H.G. Wells hat sich immer wieder mit der menschlichen Evolution und dem Rückfall in die Primitivität beschäftigt.  „Die Zeitmaschine“ ist über fünfunddreißig Jahre vor „Der Krocketspieler“ erschienen.  „Anticipations“ (1901) ist ein Essayband über soziologische Probleme.   Zweimal setzte er sich außerhalb seiner Romane mit  der Menschheitsgeschichte auseinander: „The Outline of History“ (1920, 1931 und 1940), sowie „A Short History of  the World (1922). Die meisten seiner Leitgedanken finden sich in dem 1928 veröffentlichten Sachbuch „The open Conspiracy“ wieder.  

Wells bietet in dieser Novelle keine Lösung an. Die Reduktion der Menschen auf ihre primitiven Instinkte, auf den Urmenschen in sich selbst ist nicht abänderbar. Jedes Wissen, jeder Schritt in eine bessere Zukunft ist durch den stetigen Rückfall in die Primivität gefährdet. Auch der gebildete Dr. Finchatton beginnt die Auswirkungen dieser Rücktransformation vor allem in der Form einer unerklärlichen, allgegenwärtigen Angst zu spüren. Für die Leser griffiger setzt H.G. Wells diese sich wie eine Seuche unter den Menschen (wieder) verbreitende Angst mit den archäologischen Funden gleich. Damit bietet der Brite den Lesern eine Erklärung an, welche er umgehend wieder negiert.  Im Grunde braucht diese lesenswerte, atmosphärisch mit fast primitiven erzählerischen Mittels entwickelte Geschichte auch keine Erklärung. Wie bei H.P.  Lovecraft wäre das Zeigen von zu viel kontraproduktiv und würde den Lesern die Möglichkeit eines Auswegs anbieten. H.G. Wells Thesen in Form der Schlüsse des Nervenarztes sind ohne Fragen provokativ und gleichzeitig auch spannend nachzuvollziehen. Die Zeit hat dem Briten zumindest in der Tiefe, vielleicht nicht unbedingt in  der Breite recht gegeben und macht „Der Krocketspieler“ zu einem existentiellen, aber auch elementar wichtigen Werk in H.G. Wells umfangreichen Schaffen, dessen Übersetzung in Form dieser wirklich schönen limitierten Edition überfällig ist.

H. G. Wells: Der Krocketspieler

H. G. Wells
DER KROCKETSPIELER
(The Crocquet Player)

Aus dem Englischen von Joachim Körber
Einmalige Auflage von 250 nummerierten Exemplaren
Mit einem Nachwort von Horst Illmer
und Illustrationen von Alexandra F. – projekt:wort:rausch
Mit einem von der Illustratorin handsignierten Porträt von H. G. Wells
Hochglanzkaschierter Band im "Pulp-Look", im Samtschuber
ISBN 978-3-924959-99-9
120 Seiten, 65,00 Euro
Juni 2017

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