Der Ring des Toth

Lars Dangel (Hrsg.)

Der Phantastik Kenner Lars Dengel präsentiert in der Reihe der Dornbrunnen Taschenschmöker eine Art Best Of aus den bisher sechs Anthologien mit mehr als einhundert phantastischen Geschichten aus der Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Anthologien erschienen in exklusiven Sammlerauflagen bei der „Edition CL“ oder jetzt der „Edition Dunkelgestirn“. Mit diesem preiswerten Taschenbuch öffnet der Herausgeber den Inhalt dieser überwiegend vergriffenen und selbst antiquarisch schwer erhältlichen literarischen Schätze einem breiten Publikum.

 Insgesamt zehn Geschichten inklusive der entsprechenden Autorenportraits – nur zu Erik E. Elwood hat Lars Dengel keine Informationen gefunden – bieten einen guten Überblick über die phantastischen Kurzgeschichten, die überwiegend Feuilleton weltweiter Zeitungen erschienen sind. Lars Dengel macht in seinen einführenden Worten auch zusätzlich deutlich, dass es sich um phantastische Geschichten nicht unbedingt von Genreautoren handelt, sondern in der damaligen Zeit die Kurzgeschichte für die Zeitung geschrieben den Literaten mehr inhaltliche Freiheiten angeboten hat. Daher werden die wenigsten Namen des gegenwärtigen Lesern der phantastischen Literatur etwas sagen. Arthur Conan Doyle ist der bekannteste Name, aber ein Autor der fälschlicherweise nur mit den Sherlock Holmes Geschichten, den Abenteuern des Professor Challenger und seinen nicht erfolgreichen historischen Romanen in einen Zusammenhang gebracht wird.

 Viele der hier gesammelten Storys bieten eine Art Rahmen, welcher von einer Mittelsmann zwischen dem Leser und dem phantastischen Geschehen dominiert wird. Mit dieser Vorgehensweise rücken die Autoren den eigentlichen Plot ein wenig mehr in die Vergangenheit, haben aber so auch die Möglichkeit, den zweifelnden Leser ohne abschließende Antworten zurückzulassen.

 Georg von der Gabelentz „Der Haifischmann“ ist ein klassisches Beispiel. Der Erzähler begegnet einem Mann, der vom Fischfang lebt. Seine Familie war reich, hat ihr Vermögen verloren. Seine Geliebte hat er schließlich auf dem Meer verloren, als sie des Nächstens schwimmen gegangen ist. Über allem steht die Legende der Haifischmänner, deren Stadt vor vielen Jahren untergegangen ist. Der Autor destilliert einige Ideen aus „Moby Dick“ heraus. Der Konflikt zwischen Mensch und Kreatur wird schnell persönlich. Spätestens, nachdem die erste Harpune nicht erfolgreich gewesen ist. Stilistisch sehr stimmungsvoll bleibt der Autor abschließend ausgesprochen vage.

 Auch Isolde Kurzs „Mittagsgespenst“ – geschrieben von der einzigen Frau in dieser Anthologie – verfügt über einen solchen Rahmen. In Italien – die Autorin hat sich viele Jahre dort aufgehalten – sucht ein Mann aufgrund eines Bildes eine legendäre Stadt auf. Diese wird von immer höher werdenden Türmen dominiert, deren Errichtung mit einer alten Legende verbunden ist. Zu Beginn diskutieren die Protagonisten, ob es im Sonnenüberfluteten Italien überhaupt Gespenster geben kann, da ihnen die natürliche, eher deutsche Umgebung fehlt. Am Ende dieser Geschichte stellt sich die Frage nicht mehr. Isolde Kurz gelingt es, eine immer mehr bedrückende und vor allem auch klaustrophobische Atmosphäre vor dem Hintergrund einer phantastischen Stadt voll sonderbarer Einwohner zu erschaffen. Auch hier bleibt am Ende die Frage offen, ob der Protagonist wirklich im „Keller“ diese Begegnung hatte oder er unter den klimatischen Bedingungen gelitten hat. Für den angenehmen Schauer über dem Rücken spielt diese Frage allerdings keine übergeordnete Rolle.  

 Eher expressionistisch ist Willy Seidels „Der Schreck im Götafall“. Dieses Mal wird der phantastische Inhalt nicht mittels eines Rahmens mit Erzähler, sondern per „Flaschenpost“ vermittelt. Der Leser kann nicht erkennen, ob der einsam lebende Mann die Erscheinungen im Götafall wirklich sieht oder sie Bestandteil seiner paranoiden Phantasie sind. Das Ende der Vignette bleibt offen.

 Ägypten findet in dieser Sammlung zweimal aufeinander folgend statt. Sowohl Sir Arthur Conan Doyles „Der Ring des Toth“ als auch Erik. E. Elwoods „Prinzessin Menemete“ verbinden die Wiederbelebung von seit Jahrtausenden begrabenen und in der Gegenwart gefundenen Mumien mit sozialen wie humorvollen Elementen. Sir Arthur Conan Doyle variiert zusätzlich in seiner Geschichte das Thema der Unsterblichkeit. Ein Besucher trifft indem Pariser Museum auf einen ungewöhnlichen Nachtwächter. Dieses erzählt ihm schließlich seine Lebensgeschichte. Im alten Ägypten hat er das Serum der Unsterblichkeit gefunden. Eine Unsterblichkeit, die auch Verletzungen übersteht. Bevor er die Liebe seines Lebens für ewig an seiner Seite haben kann, stirbt diese. Sein Freund und Widersacher um die schöne Frau hat ein Gegenmittel für das Unsterblichkeitsserum gefunden und tötet sich, um in der Ewigkeit bei der Frau zu sein, während der Erzähler seit Jahrhunderten auf der Suche nach dem Ring des Toth ist, mit dem das Gegengift hergestellt werden kann.

 In Elwoods Geschichte betrachten zwei „Geister“ das absonderliche Geschehen. Eine Mumienprinzessin wird nach Englang gebracht und wieder belebt. Der britischen Forscher verliebt sich in die Frau und heiratet sie. Allerdings wiederholt sich in seinem Leben das gleiche Schicksal wie bei seiner ersten Frau. Die im „Off“ geschriebenen Kommentare/ Dialoge sind pointiert, zynisch und gleichzeitig auch die britische Gesellschaft entlarvend. Hinzu kommt, dass Elwood auf Beiwerk verzichtet und sich in dieser hübsch illustrierten Geschichte auf das Wesentliche konzentriert. Dadurch wirkt sie ein wenig zu komprimiert, vieles läuft zu sehr aus der Distanz ab, aber trotz einiger thematischer Überschneidungen sind sowohl „Der Ring des Toth“ als auch „Prinzessin Menemete“ originelle Beiträge zum phantastischen Mumienkult und stellen viele der Klischees dieses Subgenre raffiniert und gleichzeitig auch entschlossen routiniert auf den Kopf.   

 Auch „Im alten Schloss“ von dem Expressionismus zugewandten Peter Baum stellt eine alte aufgefundene Schrift in den Mittelpunkt der Geschichte. Zum ersten Mal in den Händen eines Erwachsenen, wie die Einleitung sagt. In dem Schloss hat der Ich- Erzähler auf eine fiebrige Art und Weise seine Erinnerungen niedergeschrieben. An einigen Stellen ist der Leser sich nicht sicher, ob es sich wirklich um einen Menschen oder möglicherweise ein Tier handelt, das hier berichtet. Die Geschichte ist voller Drang nach außen, der kaum rudimentär vorhandene Plot wird durch immer weitere Exzesse vorangetrieben. Am Ende bleiben alle Fragen offen, der Text bricht ab. Sprachlich intensiv bis zur Grenze des Erträglichen auch experimentell provokant beinhaltet „Im alten Schloss“ eher Stimmungen und damit auch die entsprechende Stimme des Ich- Erzähler als eine vollständige Charakterentwicklung oder darüber hinaus bis auf die einzelnen Episoden einen in sich abgeschlossenen Plot.

 Bei „Die Katze“ von Kurt Münzer ahnt der Leser die Pointe. Trotzdem ist die Geschichte nicht uninteressant. Ein Mann verliert während ihres Aufenthalts in den Bergen seine Frau an eine heimtückische Krankheit. Am gleichen Tag taucht eine Katze auf, die er mit in den Norden nimmt. Als er eine neue Frau kennen lernt, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Solide erzählt mit einer nachvollziehbaren Spannungskurve, einem pragmatischen wie konsequenten Ende und sympathischen Protagonisten kann „Die Katze“ vielleicht nicht die Intensität oder Originalität einiger anderer Geschichten dieser Anthologie erreichen, stellt aber – um auf den Ursprung zurückzukommen – solide Unterhaltung im Rahmen der Zeitungslektüre dar. 

Alexander Max Vallas „Die tausend Glocken des Li-Hung-Li“ ist eher eine Miniatur. Dem Erzähler zeigt der Chinese Li-Hung-Li sein besonderes Klavier inklusive eines bizarren Glockenspiels, das wie eine Pervertierung der Natur erscheint. Die Musik ist wunderbar, das Ende dieser kleinen, sehr intensive erzählten Geschichte zwar vorhersehbar, aber denoch faszinierend verstörend.

 Auch “Der Wächter am schwarzen Kreuz“ von Victor F. Witte ist kurz und pointiert. Wie Isolde Kurz Geschichte spielt sie in Italien und unterstreicht, das es auch südlich der Alpen Gespenster gibt. Der Erzähler wird aus Versehen in einem Dom eingeschlossen. Es bleibt offen, ob er wirklich diesem schemenhaften Wächter begegnet ist oder sein Verstand ihm einen Streich spielte. Im Grunde spielt es auch keine Rolle, da diese kurze, atmosphärisch dichte Story mit der Erwartungshaltung nicht nur des Protagonisten, sondern auch der Leser spielt.

 Die beste Geschichte der Anthologie steht am Ende. „Sulitelma“ von Karl Heinrich Ulrichs ist ein homoerotische Geschichte; eine Variation von Kain und Abel in Form von Schwester und Bruder; eine nordische Variation des fliegenden Holländers in Form des nicht selten an Wolken erinnernden Sturmschiffs und schließlich eine am Rande des Kitsches sich entwickelnde tragische Dreiecksliebesgeschichte. Fügt der Leser dann noch die Legende vom Doppelgänger, vom abgetrennten Schatten hinzu, dann er erahnen, wie komplex diese Geschichte ist. Wenn am Ende noch eine Variation von Schneewittchen in einer Eishöhle hinzukommt, dann ahnt der Leser, welchen weiten Bogen Karl Heinrich Ulrichs aus dem Nichts heraus geschlagen hat. 

Zwei Kinder warten in einer stürmischen Nacht auf das Sturmschiff, eine Legende. Das Schiff besteht aus Eis. Es kommt immer nur im Winter, im Sommer bleibt es im Hohen Norden, in Sulitelma. Der Junge kommt an Bord. Er verliebt sich in das Crewmitglied Hansen, der anscheinend die Gefühle erwidert. Als er von Bord fällt, sucht er verzweifelt nach einer Chance, wieder an Bord des Sturmschiffs zu gelangen, ohne in seiner knabenhaften Naivität zu ahnen, dass inzwischen auch seine Schwester ein gesteigertes Interesse an Hansen hat.

 Stilistisch intensiv und am Rande der gesellschaftlichen Provokation hat Karl Heinrich Ulrichs auf literarisch kleinstem Raum eine ausgesprochen interessante, die schon angesprochenen Elemente auf eine tragisch spielerisch verbindende Sozialstudie verfasst. In „Matrosengeschichten“ gibt es noch eine Fortsetzung, die sich aber anders entwickelt als von Karl Heinrich Ulrichs in den hier verfügbaren Fußnoten angedeutet. Die Gefühle zwischen dem Knaben und Hansen werden relativ offen angesprochen. Seine Schwester muss mit eifersüchtiger Blindheit geschlagen worden sein. Aber ohne diese tragischen Elemente vor dem Hintergrund der Legende funktioniert die Geschichte nicht – ein phantastisches Kleinod, aus der homosexuellen Perspektive des Erzählers gleichzeitig verspielt wie provozierend geschrieben.

 Die zehn hier gesammelten Geschichten geben nur einen kleinen Eindruck der zugrunde liegenden Anthologien. Stilistisch sind alle Storys überdurchschnittlich, auch wenn inhaltlich einige Ideen zu schematisch abgehandelt werden. Aber alleine die beiden Mumiengeschichten von Arthur Conan Doyle wie auch Erik E. Elwood sind die Lektüre mehr als Wert und mit dem krönenden Abschluss „Sulitelma zeigt Herausgeber Lars Dengel, wie weit gegen die gesellschaftlichen Normen sich die Phantastik entwickelte. Die meisten Autoren werden den normalen Lesern wenig sagen, aber wie die hier geborgenen Kurzgeschichten verdient ihr nicht immer nur phantastisches Werk eine Wiederentdeckung. Entweder in den Sammelanthologien der „Edition Dunkelgestirn“ oder als handlicher Taschenschmöker des Verlag Dornbrunnens. Hauptsache, die Kurzgeschichten kommen wieder aus den Archiven ans Tageslicht und werden gelesen. Alles andere ist Schall und Rauch im Kerzenschein.    

  • Herausgeber ‏ : ‎ Edition Dornbrunnen-Verlag (31. Mai 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 172 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 394327568X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3943275681
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