Atalanta Band 1

Robert Kraft, Atalanta Band 1, Rezension, Thomas Harbach
Robert Kraft

In fünf Hardcoverbänden legt der Dieter von Reeken Verlag Robert Krafts fast viertausend Seiten umfassenden Kolportageroman mit den Innenillustrationen der ersten Ausgaben wieder neu auf. Die letzte Mohawk Indianerin mit ihren seltenen, fast übernatürlichen Fähigkeiten, die sie zu einem primitiven weiblichen Vorläufer insbesondere überdimensionierter Helden wie "Sun Koh" werden ließ, durchzieht dabei Krafts Werk deutlich mehr als die Veröffentlichung des Romans "Atalanta - das Geheimnis des Sklavensees" im Jahre 1991 vermuten lässt. Insbesondere die ersten drei/ vier Lieferungen des aus insgesamt zwölf Lieferugen - man kann grob von äquivalenten eines Heftromans pro Lieferung sprechen - zeigen nachdrücklich in ihrer Komplexität, aber auch kompakten Geschichte, dass Robert Kraft auf eine schon fast zehn Jahre vorher geschriebene Kurzgeschichte zurückgegriffen hat. 1901 veröffentlichte er in "Payne'Illustrierter Familien- Kalender" den Text "Atalanta", der sowohl als "Atalanta- die rote Athletin" als auch "Atalanta- Seltsame Erlebnisse eines jungen Deutschen in Amerika" - das bezieht sich noch nicht auf den Protagonisten des vorliegenden Romans, sondern auf den jungen Deutschen William Schulze, welcher Atalanta zumindest im Ringen ein Unentschieden abtrotzen kann - in den folgenden Jahren publiziert worden ist.
In "Atalanta- Das Geheimnis des Sklavensees" nimmt sich Robert Kraft sehr viel Zeit, um dank des Zirkusdirektors Ramoni ausführlich vorgestellt zu werden. Sie ist die einzige Überlebende eines am Sklavensee in den USA lebenden Mohawk Stammes. Sie wurde von einer Expedition bestehend aus vier Wissenschaftlern in einer Bärenhöhle gefunden, wo sie anscheinend mit den Jungen der von den Weißen getöteten Bärin aufgezogen worden ist. Atalanta ist nicht nur unglaublich kräftig und intelligent, sie ist auch attraktiv. Aus heutiger Sicht ist die Vorgehensweise Ramonis ohne Frage Hinterfragenswert. So hat er sie bis zum Einsetzen der "Jungfräulichkeit" jeden Tag mit einer besonderen Salbe eingerieben, um ihre Haut zu kräftigen. Er hat ihre Knochen - alle - brechen lassen, um sie athletischer und damit biegsamer wieder zusammenwachsen zu lassen. Ihr Körper und ihr Geist wurden in den ersten Jahren Tag und Nacht herausgefordert. Jetzt zeigt sie in einigen wenigen Szenen ihre erstaunlichen körperlichen wie geistigen Kräfte, Neben dem Lösen von mathematischen Aufgaben besiegt sie nebenbei einen Großmeister im Schach. Sie jongliert mit Kanonenkugeln, kann höher springen als jeder bekannte Mensch und ihre Kraft scheint grenzenlos. Nur als im Ringen von dem deutschen Athleten und Mitglied eines elitären Clubs Graf Arno von Felsmark besiegt worden ist, akzeptiert sie es, ihn umgehend zu heiraten. Hinzu kommt, dass ihr Mentor Ramoni während der Vorstellung an einem Herzinfarkt stirbt. Selbst Arno scheint anfänglich mit seiner neuen Baut überfordert zu sein. Er will sie nicht als Sklavin, sie sollen wie Schwester und Bruder gleichberechtigt nebeneinander leben. Was sich heutzutage ein wenig kitschig anhört, wird von Robert Kraft kraftvoll, pathetisch und doch auch überzeugend über teilweise mehrere nur mit Dialogen gefüllte Seiten extrapoliert. Zu diesem Zeitpunkt ahnt der Leser schon, dass das Glück der beiden Menschen nicht von langer Dauer sein kann. Die "Feinde" versammeln sich. Alleine die Nebenfiguren sind ein Kuriositätenkabinett, das vor allem Karl Mays eigene Kolportageromane trotz ihrer Gemeinsamkeit einer tragischen Vergangenheit der Protagonisten und einer Art Hetzjagd rund um die bekannte Erde bieder und langweilig erscheinen lässt. Das wäre die Milliardärin Morgan, die so sehr an dem Deutschen interessiert ist, dass sie den später gelähmten Mann - eine Folge von Betäubungsgas - entführen und gefangen halten lässt. Sie legt sich sogar zu ihm. Allerdings lehnt Arno inzwischen in Liebe zu Atalanta entbrannt jegliche Beziehung zu der exzentrischen wie gefährlichen Frau ab.
Mit dem psychopathischen Professor Dodd und anscheinend seinem "Zwilling" wird ein unglaublich moderner, an die verschiedenen Comics erinnernder Wahnsinniger eingeführt, der eine Leidenschaft für die Operation hat. Anscheinend arbeitet er auch gerne an lebenden Objekten und blockiert ihre Nerven, um sie als lebende Schaufensterpuppen wie im Museum in unterschiedlichen Szenarien auszustellen. Diese Szene ist einer der Höhepunkte des vorliegenden Romans. Auch er hat als Wissenschaftler/ Forscher ein Interesse an Atalanta als auch Arno. Da die Indianerin auf ihrem Rücken ein Tatoo mit einer Karte aus dem Gebiet um den Sklavensee trägt und eine Lederhaut das ergänzende Stück zeigt, schwingt der Plot erst einmal in typisches Karl May Szenario um. Im Sklavensee ist ein Goldschatz der Ureinwohner verborgen, der relativ schnell teilweise mit einem Seehund geborgen werden kann. Trotzdem versuchen die gemeinsamen Feinde den inzwischen gelähmten Arno und Atalanta entweder festzuhalten und zu ermorden oder von ihr ein weiteres Geheimnis - das Versteck der Bundeslade - zu erhalten. Während die Geschichte bis zum Bergen des Schatzes, der Freundschaft zu einem japanischen Kaisersohn und schließlich der Idee, Menschen an den wilden Ufern des Sees anzusiedeln, sehr stringent erzählt worden ist, zerfällt der Plot mit der Expedition in Richtung Nahen Osten und der Suche nach dem Versteck des Bundeslade, dem diebischen jüdischen Übersetzer und schließlich sogar der Konfrontation in der Wüste deutlich mehr. Da gibt es schon in der Handlung einen chronologischen Bruch von eineinhalb Jahren, nach denen Atalanta plötzlich aus einem Wachkoma erwacht, um wieder nach ihrem verschwundenen Geliebten zu suchen. Die Idee wäre nicht unbedingt neuer oder innovativer, wenn der Leser die einzelnen Lieferungen mit einem größeren zeitlichen Abstand goutieren würde. In den Originalen endete eine Lieferung durchaus mal mitten im Handlungsbogen durch einen Absatz, um eine längere Zeit später fortgesetzt zu werden. Die Suche nach Arno nimmt schon in der ersten Hälfte des vorliegenden Buches einen sehr breiten Rahmen ein. Hier gilt Arno als vergiftet und tot. Aber Lady Morgan hat die "Leiche" ausgraben lassen, um ihn in ihrem Haus gefangen zu halten.
Nicht nur durch die dunklen Ideen wie potentielle Leichenschändung, Verführung von sehr jungen aber wehrhaften Frauen; dem Exkurs zu einem farbigen Werwolf oder die brutale Auseinandersetzung bei ihrer Flucht mit den willigen Helfern Dodds ist "Atalanta" ein aus heutiger Sicht immer noch umfangreicher wie ungewöhnlicher Kolportage Romane. Selbst im umfangreichen Schaffen Robert Krafts nimmt das Buch einen besonderen Stellenwert ein. Während Karl May auch wie Kraft in seinen ersten echten Kolportage Arbeiten nicht unbedingt zimperlich mit den Schurken hinsichtlich ihrer Bestrafung umgegangen ist, ragt Atalanta hinsichtlich ihrer „primitiven“ – das bezieht sich weniger auf ihren Charakter als ihre Herkunft als Naturkind Amerikas – aus der Masse der Helden heraus. Mit gezielten Schüssen tötet sie bei zwei Aktionen mehr als zwanzig sie angreifende Männer. Als Kunstschützin hätte sie auch die Angreifer verletzen können, aber sie tötet sie genauso wie die Bluthunde ohne Emotionen pragmatisch. Gegenüber ihren Geliebten Arno – später heiraten sie in einer kleinen Zeremonie - ist sie zärtlich, fürsorglich und teilweise devot. Eine sexuelle Beziehung scheint nicht stattzufinden. Zwar impliziert Robert Kraft, das die Ehe vollzogen worden ist, aber er verzichtet auf Details, während Lady Morgan mit ihrer wenig romantischen, aber besitzergreifenden aggressiven Vorgehensweise zumindest den überforderten wie hilflosen Arno höflich gesprochen bedrängt. Auf der anderen Seite ist Arno allerdings auch Lehrmeister und Ratgeber der vor allem sozial erstaunlich schnell lernenden Atalanta, die neben ihren körperlichen Fähigkeiten sich auch als Dame mit der notwendigen weiblichen Arroganz in den gehobenen Schichten der Gesellschaft präsentieren kann. Wie später „Sun Koh“ oder auch „Jan Mayen“ wirkt sie teilweise zu perfekt, zu dominant, so dass sie durch den kurzzeitigen Verlusts ihres Geliebten, Ehemanns und für den deutschen Leser der damaligen Zeit die Identifikationsfigur immer wieder einmal geerdet werden muss.
Nach einem Fünftel des Fortsetzungsromans ist es schwer, selbst ein Zwischenfazit zu ziehen. Die Episode um die Bundeslade mit den gierigen Juden, die sich nicht zu schade sind, ihr Heiligtum zu fälschen und eine Bergung zu simulieren, klingt antisemitisch. Robert Kraft hält sich aber mit zu starken Verunglimpfungen zurück und ordnet ihre Verbrechen des Glaubens der gleichen Ebene zu wie Professor Dodds der Wissenschaft untergeordnete Experimente, welche insbesondere die Nationalsozialisten mit Doktor Mengele an der Spitze vorwegnehmen. Auf der anderen Seite ist die Identität des Zwillings – gibt es ihn wirklich oder handelt es sich um eine gespaltene Persönlichkeit – noch zu unbestimmt, um diesen Exkursion in Richtung kurzzeitiger Heilung des gelähmten Arnos durch eine Mischung aus Medikamenten und Willensstärkung einordnen zu können. Im Schlusskapitel mit einer fast mystisch metaphorischen Wendung erklärt Dodd nicht nur die angeblich absichtliche Spaltung seiner Persönlichkeit in „Jekyll& Hyde“ Manier – auch wenn Robert Kraft den Autoren der literarischen Vorlage offensichtlich und von den Herausgebern korrigiert mit H.G. Wells verwechselt -, sondern sieht sich in Anlehnung an Goethes Faust als „Mephistopheles“, der Atalanta in Versuchung bringt. Dies erfolgt über eine Reihe interessanter Erfindungen wie eine dreidimensionale Camera Obscura als Vorläufer der Holodeck Idee oder drahtlose Telefone. Beide Ideen finden sich in Müllers „Sun Koh“ und „Jan Mayen“ Serie in kaum veränderter Form wieder und zeigen, wie geschickt Robert Kraft seinem offensichtlich und zitierten Vorbild Jules Verne folgend phantastische Ideen technisch gut extrapolieren konnte.
Wie schon angedeutet nimmt der Roman nach dem sehr kompakten und von den originären Kurzgeschichten dominierten, sehr rasanten Auftakt sich ein wenig Zeit, um das Szenario zu erweitern und vor allem die Hintergründe einiger Figuren zu erläutern. Das ein zwielichtiger und unsympathischer Clown nicht bedingt für komische Ablenkung sorgt, passt in den in diesem Abschnitten ein wenig uneinheitlichen Text, bevor mit der Reise in den Nahen Osten, der Verfolgung auf dem Meer, dem brutalen Piratenüberfall und schließlich der Konfrontation mit den ambitionierten, aber rechtlich auch fehlgeleiteten Bundesladejägern der Plot auf einem erstaunlich hohen, unterhaltsamen Niveau „ausläuft“.
Heinz J. Galle führt die Leser in dem ersten von fünf aufeinander aufbauenden Nachwörtern informativ und kurzweilig nicht nur in die Welt Robert Krafts, sondern vor allem die Besonderheiten des Kolportage Romans ein. Neben dem sorgfältigen Druckbild, der wunderschönen Wiedergabe des originalen Titelbildes sind es die zahlreichen Innenillustrationen der Originalausgabe, welche diese Sammlerausgabe unabhängig von der Seltenheit des Originaltextes und den potentiellen, noch zu erarbeitenden Verbindungen zu „Sun Koh“ und Paul Alfred Müller zu einem Pflichtkauf vor alle machen, die sich für die utopisch phantastische deutsche Literatur vor dem Ersten Weltkrieg interessieren.

Verlag Dieter von Reeken

Hardcover

Band 1 (Lieferungen 1–12, 493 Seiten, 54 Abbildungen) - 35,00 € - ISBN 978-3-940679-94-9