All the lives he led

Frederik Pohl

Mit ihren neusten Romanen setzen sich zwei Altmeister der Science Fiction, die jeweils mehr als sechzig bis siebzig Jahre aktiv im Genre gewesen sind, mit der Idee des modernen Terrors in erster Linie von islamitischen Fundamentalisten und die paranoid überzogene Reaktion der westlichen Industrieländer auseinander. Während Brian W. Aldiss “Terror” zu einer intimen Studie einer Atmosphäre der Angst und der gegenseitigen Verdächtigen komprimiert worden ist, versucht Frederik Pohl in “All the lives he Led” globaler Fragen zu beantworten. Im Gegensatz zu Aldiss lesenswerter Arbeit versucht Pohl viel, wahrscheinlich zu viel in einen Roman zu packen, der rückblickend eher wie eine nicht selten interessante Sammlung von Ideen erscheint, aus denen man mehr als nur einen Roman hätte machen können und vielleicht sogar machen müssen.
Technisch geht Pohl dabei einen ungewöhnlichen Weg, der nicht nur die volle Aufmerksamkeit seiner Leser erfordert, sondern neben Geduld auch viel zu viel Verständnis. Pohl nutzt einen Ich- Erzähler - Brad Sheridan - als Identifikationsfigur der Leser, der bei den meisten Ereignisse nur mittelbar dabei ist und deswegen aus einer zu weit zurückgezogenen Positionen berichten soll. Die Nutzung eines Ich- Erzählers reduziert in zweifacher Hinsicht den Spannungsbogen. Ein ehrlicher Autor lässt seinen Ich- Erzähler niemals sterben oder zumindest so lange leben, bis er seine persönliche Geschichte in erster Linie dem Leser erzählt hat. Die Persönlichkeit des “Helden” bestimmt für den Leser die Wichtigkeit und vor allem die emotionale Einordnung der Ereignisse. Und hier liegt vielleicht das größte Problem des vorliegenden Romans. Brad Sheridan ist nicht nur alt und damit altklug weise, er betrachtet viele der beschriebenen Ereignisse inzwischen aus einer nicht nur emotionalen, sondern vor allem auch zeitlichen Distanz, die ihn dazu reizt, weniger zu erzählen als zu kommentieren. Mit seiner begleitenden, Geschehnisse zu relativierenden Art und Weise lässt er die einzelnen Handlungsbogen noch sachlicher, noch gedehnter und angesichts des Buches auch leider stellenweise phlegmatischer erscheinen. Brad Sheridan erscheint als eine Art Opfer und Täter zu gleich, der auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner symbolisiert, das die Ordnungsmächte in ihrem inzwischen paranoiden Kampf gegen jede Art von Terror jegliche Kontrolle verloren haben. Auf der anderen Seite präsentiert Fredereik Pohl allerdings auch eine Zukunftswelt des 21. Jahrhunderts, in der die einzelnen, nicht mehr zu überschauenden Terrorismusorganisationen ihre Identität alleine durch spektakuläre, nicht immer mit den Zielen verbundene terroristische Aktionen bestimmen.

Genauso unbestimmt oberflächlich geht Pohl mit seiner Welt des Jahres 2079 um. Vor einigen Jahren ist die USA durch die Eruption des Vulkans unter dem Yellowstone Park zumindest in der Theorie untergegangen. Gigantische Lavamassen haben große Teile des Landes unbewohnbar und die ehemals größte Wirtschaftsmacht der Welt zu einem Entwicklungsland gemacht. Globale Auswirkungen auf die anderen Nationen scheint dieses Ereignisse nur in Form eines Aufstieges der dritten Welt gehabt zu haben. Und Brad Sheridan musste sich erst in Ägypten als Touristenführer, später zu Beginn des Romans in einer Art virtuellen Erlebniswelt in Pompeji verdienen. Positiv für den ganzen Plot folgt Pohl nicht den Michael Crichton Vorgaben, sondern entwickelt den Themenpark als eine Mischung aus virtuellem Freudespender natürlich mit entsprechenden Genüssen, Touristenfalle mit überteuertem schlechten Weinausschank und zu selten als informativen Themenpark. Das Problem an diesem ausführlich beschriebenen Hintergrund ist, das er genauso unnötig ist wie die durch den Vulkanausbruch vernichtete USA. Der Leser erhält eine Reihe von teilweise verblüffenden ausführlichen Informationen, die unterstreichen, wie sorgfältig Pohl im Vergleich zum Plot den Hintergrund seiner Geschichte geplant hat, bevor diese positiven Aspekte von den inneren Monologen zurückgedrängt und viel schlimmer am Ende des Buches ins Vergessen gedrängt werden. Selbst Brad Sheridans Onkel, der Millionen zu Gunsten einer obskuren terroristischen Vereinigung in den USA unterschlagen hat, spielt plötzlich keine Rolle mehr.
Pohl hat in den achtziger Jahren mit Satiren wie “Der Stellvertreter- Krieg” bewiesen, dass er ein gutes Gespür für die Strömungen der Zeit hat. Dieses hat ihn vordergründig auch im vorliegenden Roman nicht verlassen. Er warnt vor der drohenden Verrohung jeglicher Interessengruppen, die selbst nur für die kleinste Minderheit interessante Ziele mit Bombenanschlägen durchzusetzen suchen. Er zeigt mit dem Finger auf die Randstaaten der ehemaligen Sowjetunion, in denen nicht nur für Geld jegliche Art von Waffe gekauft worden kann, sondern in denen sich eine Art Safe Heaven Strategie für Terroristen entwickelt hat. Leider manifestiert Pohl die Zeitströmung am Portrait eines Superterroristen namens Brian Bossert, über den der Leser eher rückblickend sehr viel, vielleicht sogar zu viel erfährt. Vor einigen Jahren hat er mit seinem Team einen Supertankeranschlag auf Toronto durchgeführt. Bossert scheint eher am Publikum, an der Aufmerksamkeit des Boulevards interessiert zu sein, als das er nachhaltige politische Motive verfolgt.
Der Leser erhofft sich jetzt einen stringenten Plot, in dem Terroristen vielleicht eine Vulkanexplosion zum 2000. Jahrestags des Vesuvausbruchs einleiten, die Brad Sheridan zumindest eine Art Deja Vu präsentiert. Diese Idee wird zumindest mehrfach impliziert, dann wieder fallen gelassen. Wenn selbst eine Vergiftung des Wasserreservoirs durch einen microterroristischen Anschlag dank regelmäßiger Kontrollen vereitelt wird, verliert der Roman langsam an Schärfe. Pohl konzentriert sich darauf, Brad erst einmal aufgrund seiner Herkunft zu isolieren. Ein eher gegenwärtiger Aspekt, bei dem vergessen wird, das Amerika nicht mehr die Welt kontrolliert, sondern durch eine Naturkatastrophe von den Hilfslieferungen der anderen Länder abhängig geworden ist.
Genauso unwahrscheinlich erscheinen die beiden plottechnisch wichtigsten Aspekte des Romans. Brad verliebt sich in die nicht sonderlich attraktive, aber zumindest ihm gegenüber aufgeschlossene Gerda Fleming, während er näheren Kontakt mit dem ihm unbekannten, aber terroristisch aktiven Maury. Ohne zu viel vom Plot zu verraten, steht Gerda in einem bizarren Zusammenhang mit dem Superterroristen Bossert. Hier tun sich plötzlich plottechnische Lücken auf. Ganze Nebenhandlungen basieren auf einer angeblichen Fehleinschätzung der Behörden, die einen Superterroristen trotz genetischen Tests laufen lassen. Der Rest quasi einmal ums Mittelmeer, um schließlich wieder in Italien zu landen, wo man ihn tötet. In letzter Sekunde kann er Brad Sheridan ein Geheimnis verraten, auf das sich der letzte frustrierende Teil des Buches aufbaut. Immer wieder hat de Leser das unbestimmte Gefühl, als habe Frederik Pohl durchaus lesenswerte einzelne Facetten der Geschichte entwickelt und sie später mit einer Art Holzhammer miteinander verbunden. Diese Verbindungsstücke ergeben weder einen Sinn noch beginnen sie die immer zahlreicher werdenden Fragen nach der Motivation der einzelnen Figuren zu beantworten. Wenn Sheridan dann auch noch die menschliche Geschichte unter der Perspektive des Terrorismus in jeglicher Form - hierzu zählt Pohl auch Massenmord, wobei natürlich Hitler und Stalin mehrfach expliziert als perverse Spitze des Eisberges hervorgehoben werden - recherchiert, während er selbst das Serum gegen eine Supergrippe in Händen hält, zerfällt die Geschichte endgültig. Dabei ragen aus diesem Teil des Buches die immer brutaler, rücksichtsloser und vor allem nihilistischer werdenden Taten der Terroristen wie ein Dorn im Fleisch der natürlich verweichlichten Zivilisation heraus.
Frederik Pohl ist immer ein Ideenautor gewesen, der seine Figuren pragmatisch und teilweise stereotyp des Plots untergeordnet hat. Diese Schwäche zeigt sich auch im vorliegenden Buch. Notwendig Emotionalität in Schlüsselszenen scheitert an der distanzierten Charakterisierung wichtiger Personen. Eine Identifikation insbesondere mit der Hauptfigur kann nicht stattfinden, das Brad Sheridan im Grunde ein eindimensionales Klischee eines distanzierten Ich- Erzählers ist, der davon profitiert hat, das es zum falschen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen ist. Insbesondere die Liebesgeschichte wirkt so unglaubwürdig, das man an David Cronenbergs Film “M. Butterfly” denken muss. Nur gibt es im vorliegenden Roman ausschließlich Täter und keine handelnden Opfer. Als Roman wirkt “All the live he Led” wie eine Aneinanderreihung von einigen herausragenden Szenen und Ideen vor einem minutiös entwickelten Hintergrund, aber weniger wie ein klassisch stringenter Roman oder eine nachhaltig überdenkenswerte Satire auf die Exzesse der Gegenwart. Es ist schade, dass der Autor sich nur vordergründig mit seinen durchaus relevanten Thesen auseinandergesetzt hat und das sie von dem zu wenig dreidimensional extrapolierten, aber sehr zufrieden stellend fragmentarisch entwickelten Hintergrund zu stark abstehen, als das die vorliegende Arbeit harmonisch bezeichnet werden kann. Viel Schein, aber wenig Substanz zeichnet Pohl bislang letzten Roman aus. Dabei hätte wie schon mehrfach angesprochen alleine die Idee eines Supervulkanausbruchs in den USA und deren Folgen ausgereicht, um eine überdurchschnittliche, emotionale und vor allem auch politisch- wirtschaftlich gut entwickelte Geschichte zu erzählen. Da hätte es der halbgaren Nebenhandlungszweige nicht bedurft, die “All the live he Led” so frustrierend nicht zusammenhängend machen.

Frederik Pohl: "All the lives he led"
Roman, Softcover, 386 Seiten
Tor 2012

ISBN 9-7807-6536-1455