Ein verhängnisvoller Fehler – Kritik zu The Expanse 6.01

Nun ist es also so weit: Die vorerst letzte Staffel eine der besseren Science-Fiction-Serien der letzten Jahre ist angebrochen. Das letzte Buch der Vorlagenreihe zu The Expanse wurde Ende November bereits veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung kommt erst im Mai 2022 auf den Markt. Und sowohl Buchleser, die gleichzeitig Serien-Fans sind, als auch Zuschauer, die die Bücher nicht kennen, können nicht sicher sein, wie und ob die Serie noch alle verbliebenen Handlungsstränge abwickelt.

Wenn man bedenkt, dass jede Staffel einst eines der Bücher adaptierte, handelt es sich um einen recht abrupten Schlussstrich unter einer Space Opera, die epische Ausmaße angenommen und sich eine stabile und treue Fan-Basis aufgebaut hat. Die Buchreihe umfasst nämlich sogar insgesamt neun Bücher und vollzieht zwischendurch einen ziemlich signifikanten Zeitsprung – es ist zweifelhaft, dass die Serie das alles irgendwie noch unterbringt und fraglich, ob das unbedingt ratsam wäre. Die erste von insgesamt nur sechs Episoden startet dafür auch relativ langsam:

Auf einem mysteriösen Planeten namens Laconia benennt ein unbekanntes kleines Mädchen die außerirdische CGI-Flora und -Fauna. Für Buchleser mag der Planet und vielleicht sogar das Mädchen nicht unbedingt unbekannt sein, allerdings soll an dieser Stelle noch nicht zu viel verraten werden, sofern beide später noch eine wichtige Rolle spielen sollten. Zumindest erinnert sich vielleicht der ein oder andere Zuschauer noch daran, dass die letzte Staffel mit dem abtrünnigen Mars-Militär endete, das auf (oder vielmehr über) Laconia an seinem eigenen „kleinen“ Projekt bastelte. Dieser Einstieg und ein späterer Hinweis auf die ebenfalls noch unbekannte außerirdische Macht, welche einst die Schöpfer des Protomoleküls dahinrafften, erinnern das Publikum und die Helden daran, dass noch wesentlich größere Bedrohungen im Hintergrund lauern, die es zu bedenken gilt. Dennoch gibt es für alle Beteiligten zunächst noch dringendere Probleme.

Die Erde hängt in den Seilen

Trotz ihrer enthusiastischen und pathosgeladenen Rede am Ende der 5. Staffel ist Chrisjens Avasaralas (Shohreh Aghdashloo) Stimmung nicht unbedingt die beste. Das ist auch kein Wunder, denn die Erde befindet sich in einer Art nuklearem Winter und muss sich immer noch gegen Marco Inaros (Keon Alexander) Asteroiden-Bombardement wehren. Daniel Abraham, Mark Fergus und Ty Franck, die Autoren dieser Episode, machen nicht den Fehler, den weitreichenden terroristischen Angriff aus der letzten Staffel aus Zeitgründen einfach in den Hintergrund zu schieben, um sich lediglich actiongeladenen Weltraumschlachten zu widmen, selbst wenn die Episodenzahl knapp ist. Die Folgen sind weiterhin spürbar.

Das macht die Episode gleich zu Beginn mit diversen Nachrichtenbildern, Einschlagstellen über den gesamten Planeten verteilt und Todeszahlen in Millionenhöhe noch einmal mehr als deutlich. Gürtler und die Free Navy bejubeln ihren Anführer Marco, Überlebende eines Angriffs auf die Pallas Station schwören Rache und das kleine, einst marsianische Militärschiff Rocinante schließt sich der Terroristenjagd an. Diese Bilder sind ein effizienter Weg, um den Zuschauern noch einmal explizit zu veranschaulichen, was hier alles auf dem Spiel steht.

Viele große Asteroiden können zwar abgewehrt werden, aber Fragmente erreichen die Erde weiterhin und sorgen für Tod und Zerstörung. Chrisjen hört sich mit einem resigniert-wütenden Gesicht einen äußerst unschönen Lagebericht an. Weder die vermeintlich guten Nachrichten des Berichterstatters Gareth (Ted Dykstra) noch die etwas halbherzigen Beschwichtigungsversuche von Bobbie Draper (Frankie Adams) können sie aufheitern. Während alle Erdstreitkräfte nämlich mit den Asteroiden-Angriffen beschäftigt sind, kann Marco in Ruhe weiter Alliierte um sich scharen, und um die Erdatmosphäre ist es ebenfalls nicht gut bestellt.

Erschöpfte und angespannte Helden

Die Besatzung der Rocinante befindet sich bereits mitten im Actionmodus, als das Publikum sie wiedertrifft. Seit 187 Tagen auf Gürtler-Jagd, wirken sie alle müde und angeschlagen – wenn die Augenringe diese Tatsache nicht unterstreichen, dann die angespannte Stimmung an Bord. Das Ableben des Piloten Alex hat offensichtlich eine klaffende Lücke hinterlassen. Naomi (Dominique Tipper) gibt zu verstehen, dass sie zum ersten Mal das Schiff fliegt, was die Frage offenlässt, wer das Schiff in den letzten 186 Tage geflogen hat und wo dieser jemand abgeblieben ist.

Autoren und Produzenten wählen jedenfalls nicht den leichtesten Ausweg aus einer äußerst verfahrenen Situation. Viele Science-Fiction- und Fantasy-Reihen beziehungsweise -Serien tendieren nämlich zu gerne dazu, manche Figuren für einen billigen Schockeffekt sterben zu lassen, nur um sie in der einen oder anderen Form wieder zurückzuholen oder wiederauferstehen zu lassen, anstatt sich mit den Konsequenzen und der Trauer eines Todes auseinandersetzen. Das ist schon allein aufgrund der speziellen Umstände nicht möglich. Es wäre aber ein Leichtes gewesen, die gesamte Geschichte unter den Teppich zu kehren und einen Ersatz in den Pilotensessel zu setzen – Bull (José Zuniga) hat den Job wohl doch nicht bekommen, auch wenn in der letzten Staffel fast alles darauf hindeutete. Das einzige Besatzungsmitglied, das noch einigermaßen positiv gestimmt ihrer Aufgabe nachgeht, ist Clarissa Mao (Nadine Nicole). Sie hat schließlich ihre unterirdische Gefängniszelle gegen die Weiten des Weltalls eingetauscht, auch wenn Naomi gar nicht glücklich über ihre Anwesenheit ist und das für nur noch mehr Spannung an Bord sorgt.

Schon diese erste Episode wartet mit einem kleinen Adrenalinstoß in der Form einer Weltraumschlacht und ein bis zwei nett und mit schwindelerregenden Kameraschwenks inszenierten kleinen Weltraumspaziergängen auf. Mit Holdens (Steven Strait) Inspektion des Asteroiden-Antriebs beweist die Serie – und in diesem spezifischen Fall Regisseur Breck Eisner – erneut, dass sie in der Lage ist, hohe Spannung auf einem begrenzten Raum zu erzeugen. Visuelle Effekte, Soundeffekte und ein besonderes Auge für Details – wie zum Beispiel das Schräubchen, das aufgrund der magnetischen Anziehungskraft immer wieder und immer schneller gegen die Antriebshülle schlägt – arbeiten bestens zusammen, um eine kleine, aber effektive Nervenkitzel-Szene in eine insgesamt sehr expositionshaltige Episode einzuflechten.

Bei der Besatzung von Camina Drummer (Cara Gee) sieht die Stimmung nicht unbedingt besser aus als auf der Rocinante. Michio (Vanessa Smythe), die in der letzten Episode in der Meuterei gegen Marco Inaros Crew essenzielle Rolle spielte, ist in Kriegszeiten offensichtlich schreckhaft und überfordert, wie es wahrscheinlich viele Menschen unter solchen extremen Umständen ebenfalls wären. In einer fast schon herzzerreißenden Szene muss sie das Schiff verlassen. Es passiert nicht unbedingt viel in diesem spezifischen Handlungsbogen, aber die seelische Verfassung aller Beteiligten wird effektiv transportiert. Dieser spezifische Kriegsschauplatz ist definitiv kein Kindergarten und viel zu gefährlich für Familienfreude, Einigkeit und Heiterkeit. 

Schaumschläger und Rachegelüste

Auf Ceres versucht Filip (Jasai Chase Owens) offensichtlich, seinen Ruhm zu genießen, scheint aber eher seine Schuld mit Alkohol und Sex betäuben zu wollen. Schließlich ist er für einen Terroranschlag verantwortlich, der Millionen von Menschen das Leben gekostet hat. Hinzu kommt die Frustration darüber, dass er von seinem Vater Marco absolut nicht ernst genommen wird. Keine seiner Partys und Sexskapaden scheinen ihm wirklich Freude zu bereiten und die ersehnte Anerkennung von seinem Vater erhält er ebenfalls nicht. Marco ist unterdessen nicht sonderlich daran interessiert,seine Gefolgschaft und Mit-Gürtler mit Essen zu versorgen. Stattdessen möchte er sich wie alle Schaumschläger in seinem Ruhm sonnen und große Reden schwingen. Keon Alexander spielt diese Arroganz mit einer angemessenen und überzeugenden Schmierigkeit. Gleichzeitig wirkt er noch charismatisch genug, dass man ihm ohne weiteres zutraut, dass er mit seinem Manipulationstalent große Bevölkerungsschichten um sich und seine Legende scharen kann.

Filip realisiert langsam selbst, dass er bei den großen Kriegs- und Regierungsentscheidungen wohl keine große Rolle mehr spielt. Marco hat ihn manipuliert und benutzt, um die Erde anzugreifen und seine Mutter zu verletzen. Filips “Heldenruhm“ scheint absolut bedeutungslos und er kann nicht einmal mehr seine kurzsichtigen Bedürfnisse befriedigen. Diese Frustration geht sogar so weit, dass er einen seiner einzigen wirklichen Freunde erschießt.

Randnotiz: Es ist etwas schade, dass Jared Harris, alias Anderson Dawes, nicht mehr in der Serie mitspielt und auch noch Off-Screen gestorben ist, zumindest laut Marco, der an dessen Input nicht sonderlich interessiert war.

An dieser Stelle wird auch noch einmal das soziale Gewissen deutlich, das sich seit Beginn durch The Expanse zieht: Chrisjens Probleme, oder vielmehr ihr Desinteresse daran, die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen, spiegelt sich auch in Marcos Desinteresse wider. Beide Anführer folgen ihren Rache- und/oder Ruhmesgelüsten und sind bereit dafür, massive Menschenverluste in Kauf zu nehmen. Es ist die gesichtslose Bevölkerung, die währenddessen unter die Räder gerät.

Fazit

Ein solider Einstieg, der sehr effizient alle Schachfiguren in Stellung bringt und überzeugend unterschiedliche und doch sehr ähnliche Gemütsverfassungen darstellt. Gleichzeitig werden alle wichtigen Informationen aus der letzten Staffel noch einmal in Erinnerung gerufen, ohne dass Langeweile aufkommt. Daniel Abraham, Mark Fergus und Ty Franck bringen zahlreiche Aspekte effizient in den knapp 50 Minuten unter, ohne einfühlsame emotionale Komponenten zu vergessen. Trotz der eingekürzten Staffel verspricht die erste Episode, dass sich die Zuschauer weiterhin in sicheren Händen befinden.

The Expanse

Originaltitel: The Expanse (2015)
Erstaustrahlung am 23.11.2015
Darsteller: Thomas Jane (Josephus "Joe" Aloisus Miller), Steven Strait (James „Jim“ Holden), Cas Anvar (Alex Kamal), Dominique Tipper (Naomi Nagata), Wes Chatham (Amos Burton), Shawn Doyle (Sadavir Errinwright), Shohreh Aghdashloo (Chrisjen Avasarala), Frankie Adams (Roberta "Bobbie" W. Draper)
Produzenten: Broderick Johnson, Andrew Kosove, Sharon Hall, Sean Daniel, Jason F. Brown, Mark Fergus, Hawk Ostby, Naren Shankar
Basiert auf der gleichnamigen Romanreihe von Daniel Abraham & Ty Franck
Staffeln: 3+
Anzahl der Episoden: 24+


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